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Zeigen Sie Interesse an dem, was sie tun, das war Abigails erste Faustregel. »Hallo.« Ich gehe nahe ans Wasser heran, doch er wendet sich mir noch immer nicht zu. »Ich sehe, Sie angeln.«

Toll, Lia, denke ich.

Er dreht sich um und löst einen gut dreißig Zentimeter langen Fisch vom Haken. Ich erkenne, dass es der Mann ist, der mich am Unabhängigkeitstag beobachtet hat. Seine Augen weiten sich und gleiten über mein Gesicht, als hätte er noch nie jemanden wie mich gesehen. Hat er vielleicht auch nicht.

»Hallo«, sage ich erneut, fest entschlossen, möglichst freundlich zu sein. »Ich bin Cissy Pike.« Ich strecke meine Hand aus.

Er starrt sie lange an. Dann packt er sie unversehens. »N’wibgwigid Môlsem«, murmelt er und übersetzt dann: »Ich heiße Gray Wolf.«

»Sie sprechen unsere Sprache!«

»Besser als Sie Alnôbak«, entgegnet er.

Er hat meine Hand nicht losgelassen. Sachte ziehe ich sie weg, räuspere mich und erkundige mich höflich: »Wohnen Sie hier?«

»Ich wohne überall.«

»Sie haben doch bestimmt ein Haus?«

»Ich habe ein Zelt.« Er fesselt meinen Blick, genau wie in dem Spiegelkabinett. »Ich brauche nicht viel.«

»Ich habe Sie gesehen«, höre ich mich plötzlich sagen. »Am vierten Juli. Sie sind mir gefolgt.«

»Und heute folgen Sie mir?«, fragt er.

»Oh, nein. Ich wusste nicht mal, dass Sie hier … nein, ich begleite Abigail Alcott.«

Seine Miene verfinstert sich. Er dreht mir den Rücken zu und fängt an, sein Angelzeug einzupacken. »Dann sind Sie gekommen, um noch mehr von unseren Jungs in die Besserungsanstalt zu bringen? Oder um uns zu erklären, dass wir in der Hölle landen werden, weil wir in einer anderen Kirche beten?«

Ich bin sprachlos. »Sie kennen mich doch gar nicht.«

Ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Sie haben recht«, gesteht er. »Ich kenne Sie nicht.«

»Vielleicht bin ich nicht wie Abigail.«

Wir stehen dicht voreinander. »Und vielleicht bin ich nicht irgendein Zigeuner«, erwidert er.

Worte haben eine Wand zwischen uns errichtet, und ich will sie wieder entfernen, Stein für Stein. Also zeige ich aufs Wasser. »Wie nennen Sie das?«

»Einen See.«

»Nein, ich meine, wie nennen Sie das?«

Er mustert mich aufmerksam. »Pitawbagw

»Pitawbagw.« Ich zeige auf die Sonne. »Und das?«

»Kisos.« Ich bücke mich und hebe eine Handvoll Erde auf. »Ki.« Gray Wolf streckt die Hand aus und hilft mir wieder hoch. Behutsam berührt er meinen Bauch. »Chijis. Baby.«

»Mrs. Pike!«

Aus der Ferne höre ich Abigail nach mir rufen. »Hört sich ganz so an, als müssten Sie wieder fahren«, sagt Gray Wolf.

»Ja …« Ich schirme meine Augen gegen die Sonne ab, halte nach Abigail Ausschau, kann sie aber nirgends sehen.

»Gehen Sie lieber. Sie wollen doch nicht hier übernachten.«

»Nein«, gebe ich zu. »Was heißt, ich komme wieder?«

»N’pedgiji

»Also dann. N’pegdiji

Er prustet los. »Sie haben gerade gesagt, dass Sie eine Gurke sind.«

Ich erröte. »Danke für den Sprachunterricht, Mr. Wolf.«

»Wli nanawalmezi, Lia. Pass gut auf dich auf.«

Ich haste den Hang hinauf. Auf der Rückfahrt erzählt mir Abigail irgendwelche Geschichten von immer wieder auftauchenden Geschlechtskrankheiten bei den Delacours. »Haben Sie irgendwas Interessantes herausgefunden?«, fragt sie schließlich.

Wie man ihre Sprache spricht. Und vielleicht, wie man zuhört. »Nichts, was Sie wichtig finden würden.«

John Delacour, auch Gray Wolf genannt, besitzt eine besonders traurige Berühmtheit. Er neigt zu Trunksucht, sexuellen Übergriffen, Landstreicherei und Kriminalität und hat seinen Namen mehrfach geändert. 1913 wurde er verhaftet, weil er einem Mann mit einem Ziegelstein den Schädel eingeschlagen hat. 1914 wurde er wegen Mordes zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Etliche Verwandte von ihm erwähnen seine unehelichen Kinder. John ist ein notorischer Lügner und sehr gerissen. Aus diesem Grund ist es absolut unmöglich, ihm die Wahrheit zu entlocken.

Aus den Akten von Abigail Alcott,

Sozialarbeiterin beim Wohlfahrtsamt

Als ich nach Hause komme, erwartet Ruby mich schon an der Tür, und Spencer steht einen Schritt hinter ihr. »Was zum Teufel denkst du dir eigentlich?«, brüllt er und knallt die Tür hinter mir zu. Er packt mich am Arm.

»Ich kann das erklären …«

»Tu das, Cissy. Erklär mir, wieso meine Sekretärin mich anruft und mir sagt, dass du dich im Büro mit Abigail Alcott getroffen hast. Erklär mir, wieso meine Frau, die im siebten Monat schwanger ist, eine Nervenanstalt besucht, wo sie ernsthaft verletzt werden könnte. Und wieso du dich, Himmelherrgott, in irgendeinem Zigeunerlager rumtreibst …«

»Es ist nicht irgendein Zigeunerlager, Spencer, und mir geht’s gut.« Ich versuche, mich von ihm zu lösen, aber er lässt nicht los. »Ich wollte einfach sehen, was dich und meinen Vater so fasziniert. Ist das falsch?«

»In deinem Zustand solltest du nicht …«

»Spencer, ich bin schwanger, nicht schwachsinnig.«

»Ach ja?« Spencer tobt. »Verdammt noch mal, Cissy, wie soll ich mich denn auf dein Urteilsvermögen verlassen, wenn du in der einen Nacht versuchst, dich umzubringen, und am nächsten Tag heimlich eine Irrenanstalt aufsuchst? Abigail ist für ihre Arbeit ausgebildet, du nicht. Und von jetzt an bleibst du in diesem Haus!«

»Das kannst du nicht machen.«

»Nein?« Spencer zerrt mich die Treppe hoch in unser Schlafzimmer. »Es ist nur zu deinem Besten.«

In mir rührt sich das Baby. »Es tut mir leid«, flüstere ich, doch die einzige Antwort ist das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss dreht.

Mitten in der Nacht öffnet sich die Tür. Selbst auf die Entfernung kann ich Spencers Alkoholfahne riechen. Er schlüpft ins Bett und schmiegt sich an meinen Rücken. »Gott, ich liebe dich«, sagt er, und seine Worte legen sich wie Dampf auf meine Haut.

In den Flitterwochen sind Spencer und ich zu den Niagarafällen gefahren. Einmal übernachteten wir im Zelt und liebten uns unter dem dunklen Himmel. Das Wasser rauschte wie mein Blut, und als er sich in mir bewegte, hätte ich schwören können, dass die Sterne sich zu unseren Initialen verbanden.

Jetzt schiebt Spencer mein Nachthemd hoch, dringt zwischen meine Schenkel. Wir weinen beide, wollen uns aber nichts anmerken lassen. Als Spencer in mir kommt, drückt er sein nasses Gesicht gegen meine Wirbelsäule, und ich stelle mir vor, dass seine Züge dort eingebrannt sind, wie eine Totenmaske, die mich immer überallhin begleiten wird. Er schläft ein, die Arme um meine ausladende Mitte gelegt, und seine Hände berühren sich nicht ganz, als könnte er mich nicht mehr fassen.

Blut regnet aus Gewitterwolken. Rosen erblühen um Mitternacht. Wasser kocht nicht, der Himmel hat die falsche Farbe. Und während ich durch diese fremde Welt gehe, ist der Boden unter meinen Füßen gefroren.

»Cissy. Cissy!«

Hände auf meinen Schultern. Atem an meinem Hals. »Spencer?«, sage ich mit rauer, schläfriger Stimme.

Allmählich nehme ich die Eulen als stumme Zeugen in den Bäumen wahr, den Schlamm an meinen Fersen und am Saum des Nachthemds, die schwüle Sommernacht. Ich bin im Wald hinter unserem Haus, und ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin.

»Du bist schlafgewandelt«, erklärt Spencer.