Schlafwandeln, ja, das muss es gewesen sein. Und doch, dieser andere Ort, den ich besucht habe … Spencer umarmt mich, seufzt. »Cissy, ich will doch nur, dass du glücklich bist.«
Leises Schluchzen steigt mir in die Kehle. »Ich weiß.«
Und ich bin eine Versagerin, schließlich habe ich so viel – ein schönes Zuhause, eine gesunde Schwangerschaft, einen Mann wie Spencer –, und trotzdem habe ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt. »Ich liebe dich«, sagt mein Mann. »Ich habe noch keinen Menschen so geliebt wie dich.«
»Ich liebe dich auch«, sage ich zu ihm. Ich wünschte nur, es wäre so einfach.
»Lass uns wieder schlafen gehen«, schlägt Spencer vor, »und das alles vergessen.«
Erst als ich im Badezimmer bin und mir den Schmutz vom Gesicht waschen will, merke ich, dass ich etwas in der linken Hand halte. Ich öffne meine Faust wie eine Blume: Weich und geschmeidig und honigfarben liegt da ein winziges Paar Mokassins.
SECHS
21. August 1932
Aus einer Broschüre zum Dritten Internationalen Eugenik-Kongress:
Allein im Jahr 1927 wurden in staatlichen Einrichtungen alle 31 Sekunden 100 US-Dollar für die Versorgung von Geistesgestörten, geistig Behinderten, Epileptikern, Blinden und Taubstummen aufgewendet.
Mitten in der Nacht weckt mich ein krampfartiger Schmerz im Unterleib. Ich blicke über das Matratzenmeer hinweg zu Spencer hinüber, der tief schläft. Ich versuche, die Schmerzen zu unterdrücken. Doch dann reißt etwas, und ich bin zu schockiert, um auch nur aufzuschreien. Ich sehe das Blut mein Nachthemd durchtränken und den Reißzahn, scharf wie ein Messer. Eine schuppige Schnauze drängt sich durch das Loch in meiner Haut, dann ein Klauenfuß, ein Reptilienbauch, ein Schwanz. Der Alligator, der schließlich zwischen meinen Beinen hockt, blickt auf und grinst.
»Miz Pike …«
Die Stimme gehört zu jemandem, der zusehen will, wie ich bei lebendigem Leib verschlungen werde. Der Alligatorrachen schließt sich um meinen Oberschenkel.
»Miz Pike … Lia!«
Erst mein heimlicher Name lässt den Alligator verschwinden. Ich blinzele und sehe Ruby im Nachthemd vor mir stehen, mitten in der Eingangshalle des Plaza Hotels. Ihre Augen sind tieftraurig. »Sie müssen zurück ins Bett.«
Ich bin wieder schlafgewandelt. Und Ruby hat gut aufgepasst, denn dafür haben wir sie mit auf diese Reise genommen. Sie führt mich zu unserer Suite und wendet die Augen von Spencer ab, der seelenruhig im Bett schläft. »Auf Reisen schläft keiner gut«, wispert Ruby beruhigend. Sie schlägt die Decke zurück und hilft mir ins Bett, als wäre sie die Ältere von uns beiden.
Aus dem Programm des Dritten Internationalen Eugenik-Kongresses:
Eröffnungsansprache: Dr. H. F. Perkins, Präsident der Amerikanischen Eugenik-Gesellschaft
»Biologische Klassifizierung von Immigrantengruppen«: Prof. Jap van Tysedijk
»Wie sich der Untergang des Abendlandes verhindern lässt«: Dr. Roland Osterbrand
»Das Aussterben des Alten Amerikaners: Eine Studie zur Verbesserung der menschlichen Rasse«: Dr. Spencer Pike
Der Dritte Internationale Eugenik-Kongress tagt im New Yorker Museum of Natural History. Wir sitzen in der Nähe des Vortragssaales im Aufenthaltsraum der angereisten Koryphäen. Spencer bereitet sich auf seinen Vortrag vor, mein Vater studiert die Erläuterungen zum Programm. Ruby sitzt still wie ein Geist in einer Ecke und strickt.
Wir haben den Vorkämpfer für das Sterilisationsprogramm in Michigan kennengelernt, einen kubanischen Physiologen, der mir erklärte, es sei die Pflicht von Frauen wie mir, die Welt zu retten, indem sie mehr Kinder bekommen, und einen New Yorker Arzt, der nach Knoblauch roch und mit Spencer eine Stunde lang über die jährlichen Kosten für die Versorgung der Nachkommen zweier schwachsinniger Familien (zwei Millionen Dollar) im Vergleich zu den einmaligen Kosten für die Sterilisation der Eltern (150 Dollar) fachsimpelte.
Jetzt debattieren mein Vater und mein Mann darüber, was genau Spencer in seinem Vortrag ansprechen soll.
»Ich weiß nicht, Harry«, sagt Spencer, »im letzten Jahr haben wir das mit den Stammbäumen doch eigentlich aufgegeben.«
Die Entscheidung, die Stammbaumkarten nicht länger als Hauptwerkzeug für die Eugenik-Bewegung in Vermont einzusetzen, wurde getroffen, nachdem drei einflussreiche Parlamentsmitglieder, ohne deren Stimmen das Sterilisationsgesetz nicht hätte verabschiedet werden können, auf den Karten aufgetaucht waren, und zwar als Nachfahren der degeneriertesten Familien im ganzen Staat.
»Spencer, wir haben getan, was notwendig war, um das Sterilisationsgesetz nicht zu gefährden. Aber damit ist jetzt Schluss. Wir sollten uns wieder der Basisarbeit zuwenden.« Mein Vater nimmt mir einen Orangenschnitz aus der Hand und schiebt ihn sich in den Mund. Dann hält er Spencer den Finger unter die Nase. »Riechst du das? Du siehst es nicht mehr … aber du weißt, dass es da war. Du musst die Karten nicht zur Sprache bringen, wenn du nicht willst. Meinetwegen verbrenn sie, wenn du dich dann besser fühlst. Aber jeder im Saal erinnert sich noch an unsere Arbeit vor fünf Jahren, als wir diese Familien erfasst haben. Jeder wird wissen, was du nicht aussprichst.« Dann geht er aus dem Zimmer.
Spencer betrachtet die Karte. »Was meinst du dazu?«, fragt er mich, und ich falle fast vom Stuhl. Dass ich nach meiner Meinung gefragt werde, bringt mich so aus der Fassung, dass ich kaum die richtigen Worte finde. Ich denke an die Zigeunerin, der man den Sohn weggenommen hat. An Gray Wolf, der allein aufgrund meiner Hautfarbe dachte, ich wäre gekommen, um sein Leben zu ruinieren.
»Ich denke, dass der Schaden bereits angerichtet ist«, erwidere ich. Da dringen durch die offene Tür Spencers Name und donnernder Applaus.
Wenn fünfhundert Menschen auf einmal applaudieren, klingt das, als würde die Erde um einen herum aufbrechen. Spencer rollt die Stammbaumkarte, die vor ihm auf dem Tisch liegt, zusammen, schiebt sie sich unter den Arm und geht hinaus in den Vortragssaal. »Ladys und Gentlemen«, beginnt er, und ich muss nicht weiter hinhören, weil ich weiß, was er sagen wird.
Ich stehe auf und gehe nach draußen, die Treppe hinunter.
»Gehen wir spazieren«, schlage ich Ruby vor.
Die Hölle kann nicht viel anders sein als New York im Sommer. Der Schweißgestank vermischt mit dem Geruch der Salzlake in den Gurkenfässern der Straßenverkäufer, das Gedränge von Hunderten von Menschen, die Zeitungsjungen, die für fünf Cent Tragödien verkaufen, die Auspuffgase, die wie Gespenster aufsteigen. Es ist eine Unterwelt. Und es gibt eine Menge Leute, die dir angeblich einen Notausgang zeigen können. In meinem Fall ist es das kleine Mädchen, das mit seiner Mutter unter einer Wagenplane wohnt und sich meinen Dollarschein zusammengerollt wie eine Zigarette hinters Ohr steckt. Die Kleine führt Ruby und mich zu einem Sandsteinhaus drei Straßen weiter. Ein kleines Schild hängt über der Tür: HEDDA BARTH, MEDIUM.
Die Frau, die uns die Tür öffnet, ist sogar noch kleiner als Ruby und hat langes weißes Haar. »Wir würden gerne eine spirituelle Sitzung abhalten, mit Ihrer Hilfe«, sage ich.
»Aber Sie sind nicht angemeldet.«
»Nein.« Sie mustert mich, dann tritt sie zur Seite und lässt uns herein.
Sie steigt vor uns eine kleine Treppe hinauf und streckt die Hand nach der Wohnungstür aus, die von allein aufschwingt.
Ein sechseckiger Tisch wartet im Dunkeln auf uns. »Da wäre noch die Kleinigkeit der Bezahlung zu klären«, sagt Hedda.
»Der Preis«, entgegne ich, »spielt keine Rolle.«