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Erste Statistiken zeigen, dass die Bevölkerung von Vermont einen Höchststand an körperlichen und geistigen Defekten aufweist. Man vermutet, dass dies mit dem hohen frankokanadischen Bevölkerungsanteil zusammenhängt.

H. F. Perkins: Projekt Nr. 1, EEV-Archiv, 1926

Irgendwie weiß Gray Wolf, wann er kommen kann. Wenn Spencer eine Vorlesung hat und Ruby Einkäufe macht, sitzt er plötzlich auf meiner Veranda. Er tritt hinter einem Baum hervor, wenn ich einen Abendspaziergang im Wald mache. Wenn er nicht selbst kommt, finde ich weitere Geschenke: ein Weidenkörbchen, einen kleinen Schneeschuh, die Zeichnung eines galoppierenden Pferdes. Wenn wir zusammen sind, frage ich mich, wo er mein Leben lang gesteckt hat.

Ich weiß sehr wohl, dass ich das nicht fördern sollte. Er kommt vom rauen Rand der Gesellschaft, ich bin in ihrer festen Mitte aufgewachsen. Er ist dunkel und ruhig und völlig anders als ich, und genau deshalb sollte ich ihn auf Distanz halten. Aber genau deshalb bin ich auch so fasziniert von ihm.

Wenn man durch die Straßen von Burlington geht, kann man Menschen aller Schattierungen sehen – Iren, Italiener, Zigeuner, Juden –, aber alle, die so aufwachsen wie ich, lernen Scheuklappen zu tragen. Man registriert nur die Menschen, die so aussehen wie man selbst.

Was würde Spencer wohl sagen, wenn er wüsste, dass der Mensch, mit dem ich mich am meisten identifiziere, ein Zigeuner ist, jemand, der genauso wenig in diese Welt passt wie ich?

Heute werde ich Gray Wolf nicht sehen, und ich bin enttäuscht. Ich werde tagsüber nicht zu Hause sein, sondern muss zum monatlichen Treffen des Klifa Club. Das ist der angesehenste Damenclub in Burlington; aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung versteht sich meine Mitgliedschaft von selbst.

Ich lausche zwei Stunden lang einer Harfenistin und weitere zweieinhalb Stunden dem langatmigen Vortrag eines Botanikers über Gärten und Parks in Italien. Ich quäle mich durch Limonaden und Kanapees, während andere Frauen mir sagen, was ich schon weiß – dass es ein Junge wird. Ich schleiche mich die Treppe hinunter, als die Damen die Veranstaltung im kommenden Monat besprechen.

Unter der grünen Markise wartet Gray Wolf auf mich, als wären wir verabredet. Ich bin ein klein wenig erschrocken, dass er mich sogar hier in der Stadt gefunden hat, doch er hebt nur die dunklen Augenbrauen und bietet mir eine Zigarette an. Wir spazieren gemeinsam weiter. Zunächst spricht keiner von uns. Es ist nicht nötig.

»Der Klifa Club«, sagt er schließlich.

»Ja.«

»Wie ist es da so?«

»Natürlich prachtvoll. Und sehr exklusiv.«

Er lacht.

Als wir zu einer Straßenkreuzung kommen und er meinen Ellbogen umfasst, erstarre ich. Wir haben uns zwar schon häufig getroffen, aber berührt hat Gray Wolf mich noch nie. Er bemerkt meine Anspannung, lässt mich los.

»Sie nennen mich Lia«, sage ich. »Warum?«

Er zögert. »Weil Sie nicht aussehen wie eine Cissy.«

»Wie würde mein Name in Ihrer Sprache klingen?«

Er schüttelt den Kopf. »Meine Sprache spricht niemand mehr.«

»Aber Sie tun es.«

»Nur weil ich nichts mehr zu verlieren habe.« Er sieht mich kurz an. »Man kann nicht jedes beliebige Wort in Alnôbak übersetzen.« Gray Wolf deutet mit dem Kinn auf die Brosche an meiner weißen Bluse, eine kleine Uhr. »Das zum Beispiel heißt papizwokwazik. Aber das bedeutet nicht Uhr. Es ist ›das Ding, das tickt‹. Ein Biber kann ein tmakwa sein – ein Holzfäller – oder ein abagôlo – Flachschwanz – oder ein awadnakwazid – der Holzschlepper … je nachdem, wie man ihn sieht.«

Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Name sich von Fall zu Fall ändern kann. »Awadnakwazid«, wiederhole ich genüsslich. »Ich wünschte, ich hätte einen Namen wie Gray Wolf.«

»Dann geben Sie sich selbst einen. Ich hab’s getan.« Er zuckt die Achseln. »Mein Geburtsname ist John … Azo. Aber Gray Wolf passt besser zu mir.«

Wir sind inzwischen auf die belebte College Street eingebogen. Ich weiß genau, dass die Mutter, die mit ihrer Tochter spazieren geht, und der Geschäftsmann mit seinem Elfenbeinstock und die beiden jungen Soldaten nicht verstehen, was jemand wie ich mit jemandem wie Gray Wolf zu schaffen hat. Ich frage mich, wer uns sonst noch alles sieht.

»Früher bin ich manchmal im Haus meines Vaters auf das Dach geklettert und hab überlegt, ob ich springen soll«, sage ich. »Einmal bin ich tatsächlich gesprungen. Und hab mir prompt den Arm gebrochen.«

»Warum wollten Sie springen?«

Das hat mich noch nie jemand gefragt. »Weil ich es konnte.« Ich bleibe stehen, und die Passanten müssen uns ausweichen. »Geben Sie mir einen Namen.«

Er sieht mich lange an. »Sokoki«, sagt er. »Die ausgebrochen ist.«

Plötzlich höre ich hinter mir jemanden rufen. »Cissy?« Spencers Stimme. »Bist du das?«

Vielleicht wollte ich ja ertappt werden, vielleicht habe ich damit gerechnet. Aber als Spencer vor Gray Wolf steht, zittern mir die Knie. Ich würde hinfallen, wenn Spencer mich nicht auffangen würde.

»Liebling?«

»Mir ist nur ein bisschen schwindelig nach dem Klifa Club.«

Spencer wirft Gray Wolf einen herablassenden Blick zu. »Geh weiter, Häuptling.«

»Ich bin kein Häuptling.«

Mit klopfendem Herzen greife ich in meine Handtasche und hole einen Dollarschein heraus. »Also gut«, mische ich mich ein, als hätten Gray Wolf und ich um etwas gefeilscht. »Aber mehr zahle ich nicht dafür.«

Er spielt mit, aber Enttäuschung verdunkelt seine Augen. »Danke, Ma’am.« Er gibt mir etwas Kleines, um das ein Taschentuch gewickelt ist. Dann verschwindet er zwischen den vielen Menschen.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mit Bettlern sprechen«, sagt Spencer und nimmt meinen Arm.

»Es ist christliche Barmherzigkeit«, murmele ich.

»Was hat er dir denn angedreht?«

Ich luge zwischen die Falten des Taschentuchs, und schon wird mir wieder schwindelig. »Billigen Schmuck«, sage ich und stopfe das Miniaturporträt in meine Tasche, bevor Spencer das Gesicht erkennt. Es ist das gleiche wie auf dem Bild, das auf meiner Frisierkommode steht und mir helfen soll, das Aussehen meiner Mutter nicht zu vergessen.

Das Gerät aus dem Traum spüre ich förmlich noch, ein TriField EMF-Messgerät, das ein Mann mit langen Haaren bedient.

Die andere Seite des Bettes ist leer. Ruhelos gehe ich ins Bad und spritze mir Wasser ins Gesicht. Dann gehe ich nach unten und suche Spencer.

Er ist in seinem Arbeitszimmer. Nur die Lampe mit dem grünen Glasschirm auf seinem Schreibtisch brennt. Einige Stammbaumkarten sind auf dem Dielenboden ausgerollt wie alte Straßen, und durch das offene Fenster dringen die Rufe der Ochsenfrösche. Als er den Kopf hebt, sehe ich, dass er betrunken ist.

»Cissy. Wie spät ist es?«

»Nach zwei.« Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu. »Komm doch ins Bett.«

Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Wieso bist du wach geworden?«

»Die Hitze.«

»Hitze.« Spencer nimmt sein Glas und leert es. Eine Ameise krabbelt über den Schreibtisch. Er zerquetscht sie mit dem Boden des Whiskyglases.

»Spencer?«

Er wischt das Glas mit seinem Taschentuch ab und blickt zu mir hoch. »Denkst du«, fragt er leise, »dass sie es spüren? Denkst du, sie wissen, was passiert?«

Ich schüttele verwirrt den Kopf. »Du musst jetzt schlafen.«

Doch da zieht Spencer mich auf seinen Schoß. Er hält meinen Arm fest und berührt die Stelle, wo der Verband in der Armbeuge festgeklebt ist. »Weißt du eigentlich, wie furchtbar es für mich wäre, dich zu verlieren?«, flüstert er leidenschaftlich. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel du mir bedeutest?«