Выбрать главу

»Mein Gott, er war mit dir und Ruby hier allein!«

John »Gray Wolf« Delacour ist angeblich ein Enkel von Missal Delacour, der alten Zigeunerin. John ist nicht ganz so dunkel wie seine Vorfahren, aber er hat den lockeren, schlurfenden Gang eines Zigeuners. Seine eigenen Verwandten halten ihn für hochnäsig, ungebildet und unmoralisch, wenngleich er Lesen und Schreiben gelernt hat. Wer sich für Evolution interessiert, müsste John Delacours Stammbaum nicht sehr weit zurückverfolgen, um auf das Missing Link zu stoßen.

Aus den Aufzeichnungen von Abigail Alcott, Sozialarbeiterin

Es fällt mir alles so erstaunlich leicht – der erfundene Arzttermin zur Schwangerschaftsuntersuchung, die hastige Fahrt in die Stadt, die Abzweigung, die mich zum Lager am Seeufer bringt.

Als ich diesmal durch das Labyrinth von Zelten gehe, fallen mir die Farben auf. Eine Frau schüttelt einen leuchtend gestreiften Seidenmantel aus. Einige Zelte weiter hockt eine Alte auf einem Stuhl und befestigt einen dünnen Eschengriff an einem Korb. Eine scheckige Katze spielt zu ihren Füßen; ein knallgelber Kanarienvogel hockt auf ihrer Schulter. Männer packen ihre Waren zum Verkauf in bunte Kisten, laden sie für die nächste Fahrt zum Bauernmarkt ein. Im Vergleich dazu kommt mir mein Leben farblos und blass vor.

Als ich auf die Korbflechterin zugehe, tut sie so, als sähe sie mich nicht. »Entschuldigung«, sage ich. Ihre Katze maunzt und läuft weg. »Ich suche Gray Wolf. John Delacour?«

Vielleicht liegt es daran, dass ich hochschwanger bin, vielleicht an meinem dringlichen Blick – jedenfalls steht die alte Frau auf, nimmt den Kanarienvogel von ihrer Schulter und setzt ihn auf die Stuhllehne. Sie lässt den unfertigen Korb auf dem Boden liegen und hinkt auf den Wald zu. Dann deutet sie auf ein Kiefernwäldchen, das sich über einen steilen Hang erstreckt, und überlässt mich mir selbst. Meine Beine schmerzen von der Anstrengung des Aufstiegs, und ich werde unsicher, ob diese Frau überhaupt verstanden hat, nach wem ich suche. Doch dann tut sich unversehens eine kleine Lichtung vor mir auf. Der Boden ist uneben, als kochte die Erde unter dem Gras. Zwischen diesen Erhebungen sitzt Gray Wolf.

Als er mich sieht, steht er auf, und ein Lächeln erhellt sein Gesicht. »Ich wusste nicht, ob ich Sie noch mal wiedersehe«, sagt er erleichtert.

Beklommen verschränke ich die Arme über dem Bauch. »Sie haben mich angelogen. Spencer hat herausgefunden, dass Sie im Gefängnis waren. Und mein Vater sagt, dass meine Mutter Sie nicht gekannt hat. Dass Sie Angst hatte vor Menschen wie Ihnen.«

»Menschen wie mir. Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht nicht der Einzige bin, der hier lügt?«

»Aus welchem Grund sollten die beiden denn lügen?«

»Warum lügt man?«, fragt er zurück. »Fragen Sie mal unten am Fluss die Leute, wer sie sind, und jeder wird Ihnen erzählen, sie wären dunkelhäutige Franzosen. Vielleicht haben sie auch irisches oder italienisches Blut. Manche geben sich lieber als Schwarze oder Mohawk aus, weil das immer noch nicht so schlimm ist wie Abenaki. Eines müssen Sie wissen, Lia, hier darf es keine Indianer geben, das würde nämlich bedeuten, dass hier Menschen gelebt haben, bevor die alten Vermonter herkamen.«

»Wegen Mordes ins Gefängnis zu wandern ist aber etwas ganz anderes«, wende ich ein. »Man wird nicht für ein Verbrechen verurteilt, das man nicht begangen hat.«

»Ach nein?« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Hat Spencer Ihnen von dem Mann erzählt, den ich getötet habe? Er war Aufseher im Steinbruch, und er hat einen Mann geschlagen, weil er nicht schnell genug Steine geschleppt hat. Einen Mann, der siebenundneunzig Jahre alt und mein Großvater war und der vor meinen Augen an den Schlägen gestorben ist.«

Ich rufe mir Abigails Unterlagen in Erinnerung: John ist ein notorischer Lügner und sehr gerissen … es ist absolut unmöglich, ihm die Wahrheit zu entlocken. »Dafür hätte Sie kein Gericht wegen Mordes verurteilt.«

»Auch nicht, wenn gewisse Leute mich loswerden wollten?«, sagt Gray Wolf. »Leute, auf die Geschworene große Stücke halten?«

Schlagartig sehe ich meinen Vater vor mir, der kurz vor der Verabschiedung des Sterilisationsgesetzes mit Governeur Wilson diniert. Dr. DuBois, der Spencer nicht dazu bringen kann, mich einweisen zu lassen … und der kein Sterbenswörtchen über den Selbstmordversuch von Professor Pikes Gattin verloren hat. »Sie haben aber nicht die volle Strafe abgesessen«, wende ich ein.

»Nein. Ob Sie’s glauben oder nicht, endlich hatte ich mal etwas, das sie wollten, etwas, mit dem ich handeln konnte.« Er blickt nach unten. »Der Gefängnisdirektor war ganz begeistert von dem neuen Sterilisationsgesetz. Insassen, die sich freiwillig für eine Vasektomie zur Verfügung stellten, bekamen fünf Jahre erlassen. Für mich bedeutete das die Freiheit.«

Es ist eine Sache, Spencer zuzuhören, wenn er über Sterilisation theoretisiert. Es ist etwas völlig anderes, einen Mann über seine eigene Vasektomie sprechen zu hören. »Aber um welchen Preis«, murmele ich.

»Ich habe nicht daran gedacht, was sie mit mir anstellen würden, auch nicht, dass ich nie eine Familie haben würde. Ich hatte nur den einzigen Gedanken, dass ich dann endlich das Kind kennenlernen könnte, von dem ich bereits wusste und das zur Welt kam, als ich schon im Gefängnis saß.« Gray Wolf hebt mein Kinn an. »Lia«, sagt er, »du warst es wert.«

SIEBEN

1. September 1932

Warum soll der Staat nicht geringe Opfer von denjenigen verlangen, die ihn schwächen. Warum soll er nicht verhindern, dass ihm noch mehr auf der Tasche liegen … Drei Generationen von Schwachsinnigen sind genug.

Richter Oliver Wendell Holmes 1927 bei der Begründung des Urteils des obersten Berufungsgerichtes im Staate Virginia im Fall Buck gegen Bell, bei dem die Sterilisation eines »möglichen Elternteils von sozial unzulänglichen Nachkommen« in zweiter Instanz bewilligt wurde

Es war einmal, als meine Mutter so alt war wie ich jetzt, dass sie sich verliebte. Nicht in einen von den schmalgesichtigen, jungen Männern, die meinen imposanten Großvater mit Sir anredeten. Nicht in Harry Beaumont, einen jungen Professor, der die besten Aussichten hatte, den Preis zu gewinnen, nämlich die Hand meiner Mutter, und der fast zehn Jahre älter als sie war und in einem Atemzug von Liebe und natürlicher Auslese sprach. Während Harry und die anderen jungen Männer auf der Veranda mit meiner Mutter flirteten, blickte sie an ihnen vorbei und beobachtete einen Zigeuner, der auf den Feldern ihres Vaters arbeitete.

Seine Haut hatte die Farbe des schimmernden Klaviers, auf dem sie den Freundinnen ihrer Mutter zum Tee etwas vorspielte. Sein Haar war länger als ihres. Seine Augen waren so scharf wie die eines Habichts, und manchmal, wenn sie allein in ihrem Zimmer war und die Vorhänge geschlossen hatte, spürte sie, dass er sie trotzdem sehen konnte. Wenn sie den indianischen Arbeitern Wasser brachte – der einzige Kontakt mit ihnen, der ihr erlaubt war –, spürte sie ihn in ihren Adern.

Siebzehn Jahre lang war sie eine vorbildliche Tochter gewesen. Doch jetzt kam ihr ihr Leben vor wie ein eleganter Mantel, der all die Jahre in einer Aussteuerkiste gelegen hatte und nicht mehr passen wollte.

Eines Tages auf dem Feld war er der Letzte, der ihr seine Blechtasse reichte. Schweiß rann ihm über die nackte Brust, und er roch nach den Blaubeeren, die er gepflückt hatte. Seine Zähne blitzten weiß, als er sie fragte: »Wer sind Sie?«

Sie hätte sagen können, Lily Robinson. Oder Quentin Robinsons Tochter. Oder die Zukünftige von Harry Beaumont. Aber danach hatte er nicht gefragt. Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sie sich, warum sie sich stets als Teil eines anderen Menschen definierte.