Er begann, kleine Geschenke für sie auf der Veranda zu verstecken: ein Paar winzige Mokassins, ein Weidenkorb, die Zeichnung eines galoppierenden Pferdes. Sie erfuhr, dass er John hieß.
Vor ihrem ersten Rendezvous erzählte sie ihren Eltern, sie würde bei einer Freundin übernachten. Er erwartete sie an der Straße in die Stadt. Er nahm ihre Hand, als hätten sie das schon ewig so gemacht. Sie gingen zum Fluss, und der Sternenhimmel war ihr Baldachin. Als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, fiel sein Haar über ihr Gesicht und schloss die Welt aus.
Er war ein Jahr jünger als sie und ganz anders als die Zigeuner, von denen man ihr immer erzählt hatte. John war nicht schmutzig oder dumm oder verlogen. Und er verstand sie. Allmählich waren Lilys Tage nur noch die Wartezeit auf den Abend. Sie fing an, ihrem Vater Widerworte zu geben und ihre Mutter mit Verachtung zu strafen. Sie fing an, in satten Farben zu träumen. Und an dem Abend, als John in sie eindrang und ihr beibrachte, sich zu öffnen, da weinte Lily, weil jemand sie liebte und nicht nur die Person, die sie sein sollte.
Als sie schwanger wurde, beging sie den Fehler, darin eine Chance zu sehen. Sie wartete aufgeregt vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters, während John, in Oberhemd und geliehener Krawatte, um ihre Hand anhielt.
An das, was dann geschah, konnte Lily sich später nicht mehr erinnern, oder vielleicht ließ sie die Erinnerung auch nicht zu. Da war John, der bewusstlos und blutig geschlagen aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters geschleift wurde. Da war die Faust ihres Vaters, die über ihr bebte, als er ihr befahl, noch einmal die Hure zu geben, indem sie irgendeinen arglosen Dummkopf heiratete. Der förmliche Kuss, der ihre Verlobung mit Harry Beaumont besiegelte; der schreckliche Augenblick in der Kirche, als sie ihrem frischgebackenen Ehemann beinahe die Wahrheit gesagt hätte; einige Zeit später dann die Freude auf seinem Gesicht, als sie ihm stattdessen eröffnete, dass sie guter Hoffnung war.
Sie versuchte, John zu finden, aber es war schwierig, jemanden aufzuspüren, der keinen festen Wohnsitz hatte. Sie hörte Gerüchte, dass er in einer Bar in Vergennes arbeitete, dass er ein Pferdedieb geworden war, dass er sich im Steinbruch verdingt hatte. Als sie erfuhr, dass die letzte Geschichte stimmte, war John Delacour schon nicht mehr dort beschäftigt. Er saß im Gefängnis und wartete auf seinen Prozess wegen Mordes an einem Aufseher.
Sie schrieb ihm einen Brief, einen kleinen rechteckigen Zettel, den er zusammenfaltete und in einem Beutel um den Hals trug. Darin stand nichts über ihre Heirat oder ihr Befinden oder das Kind. Darin stand nur: Komm zurück. John antwortete nicht auf den Brief, weil er wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte. Nach einem Monat wachte Lily nicht mehr mit seinem Geschmack auf den Lippen auf. Nach drei Monaten konnte sie sich nicht mehr an den Holzrauch in seiner Stimme erinnern. Nach sechs Monaten bekam sie Albträume, dass ihr Baby mit rabenschwarzem Haar und zimtfarbener Haut zur Welt kommen würde.
Lily Robinson Beaumont erlitt eine Frühgeburt; sie fiel nach vierzig Stunden Wehen in tiefe Bewusstlosigkeit und starb kurz darauf. Sie hatte Johns Namen auf der Zunge und nahm ihn mit sich. Sie wusste nicht, dass John eines Tages zurückkommen würde – selbst als er von einem bestechlichen Gefängniswärter erfahren hatte, dass seine Geliebte in die Geisterwelt übergegangen war. Sie wusste nicht, dass die Tochter, die sie zurückließ, Cecelia, goldenes Haar hatte und eine Haut so weiß wie ein Wunder.
In meinen Träumen gebäre ich den Teufel, Jesus, einen Titanen, der mich zerreißt. Ich blute aus allen Poren, und wenn ich aufwache, sind die Laken schweißdurchtränkt. Das Fenster im Schlafzimmer klemmt. Etliche Male versucht Spencer vergeblich, es zu öffnen. Ich kann seinen Anblick nicht ertragen.
Als ich heute Nacht aus dem Schlaf aufschrecke, erwacht Spencer nicht mit mir. Ich schlüpfe aus dem Bett, der Teppich dämpft meine Schritte, als ich die Treppe hinuntergehe. Spencer hat die Tür seines Arbeitszimmers offen gelassen.
Ich knipse die grüne Schreibtischlampe an. Ich war schon unzählige Male in diesem Zimmer, doch nie mit der Absicht, etwas zu suchen. Wo könnte Spencer es aufbewahren?
Auf seinem Schreibtisch liegen ordentliche Papierstapel. Sein Block ist mit unleserlichen Notizen vollgekritzelt. Einige Worte kann ich entziffern: Zwillinge, Vormundschaft, epidemisch. In einem Schirmständer neben dem Tisch stehen aufgerollte Stammbaumkarten. Sie tragen Überschriften: Delaire, Moulton, Waverly, Olivette – kein Delacour. Könnte mein Vater – mein Vater? – den Stammbaum von Gray Wolfs Familie unter einem anderen Namen abgelegt haben?
Weber/George.
Die Überschrift springt mir ins Auge. Behutsam ziehe ich die Karte aus dem Ständer und entrolle sie auf dem Tisch. Es ist nicht schwer, Rubys Namen zu finden, er steht ganz unten zwischen anderen, und Spencer hat ihn mit roter Tinte markiert. Ich sehe mathematische Berechnungen und Anmerkungen in seiner engen Handschrift. Er wollte ermitteln, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Ruby sich ebenso schlimm entwickelt wie ihre Verwandten.
Neben dem Namen ihrer geliebten Schwester befindet sich eine Markierung, dunkel wie ein Brandmal. Sx, für Unmoralisch.
Dasselbe Symbol hätte man auch meiner Mutter verpasst.
»Cissy.«
Spencers Stimme ist ganz leise, und doch fahre ich ruckartig hoch. Ich sehe seine Silhouette in der offenen Tür. Er hat seinen Bademantel an und beobachtet mich. Als er ins Zimmer tritt, fällt sein Blick auf den Tisch.
Einen quälenden Moment lang denke ich, er weiß genau, wonach ich gesucht habe. Doch aus unerfindlichen Gründen glättet sich sein Gesicht zu einer Maske. »Schatz, du bist wieder schlafgewandelt.«
»Ja.« Ich räuspere mich.
Er bietet mir seinen Arm an und führt mich aus dem Arbeitszimmer, schließt die Tür hinter uns ab. »Daran ist nur das Baby schuld«, sagte Spencer, ohne mein Gesicht aus den Augen zu lassen.
Wir sprechen über zwei verschiedene Dinge, und das wissen wir beide. »Nein«, antworte ich.
Am nächsten Morgen sitze ich vor dem Spiegel an meiner Frisierkommode, als Spencer sich zu mir beugt und mir einen Kuss auf den Hals gibt. »Wie fühlst du dich?«, fragt er, als wäre letzte Nacht nichts passiert.
Ich lege die Bürste aus der Hand. »Gut.«
Spencers Hand gleitet an meinem Nachthemd hinunter auf die Leibeswölbung, die unseren Sohn birgt. »Und wie fühlt er sich?«
»Er fühlt sich schwer an.«
Wir sind ein schönes Paar.
»Spencer«, sage ich vorsichtig. »Ich muss mit dir reden.«
Aber inzwischen hat er die Hände an meinen Armen hinuntergleiten lassen, und seine Finger liebkosen den allmählich verheilenden Wulst an meinem Handgelenk. Er hat den Kopf geneigt und schweigt, aber ich kann seine Gedanken lesen: Wenn er mich nicht lieben würde, wäre alles viel einfacher.
Aber er liebt ja nicht mich. Er kennt mich nicht einmal richtig. Wenn Spencer schon nicht zu einer Frau stehen kann, die ihr Leben nicht haben will, wie wird er dann erst auf eine Frau reagieren, die Halbindianerin ist?
Würde er meinen Namen an den Delacour-Stammbaum anfügen? Oder würde er den Stammbaum verbrennen? Spencer hat die Wahrheit über mich bislang vor Freunden und Kollegen überaus geschickt zu verbergen verstanden. Vielleicht würde ihm das auch weiterhin gelingen. Alle Babys, so könnte ich ihm erklären, haben als Neugeborene eine dunkle Haut und ein rundes Gesicht.
»Weißt du, Cissy«, sagt Spencer, »ich denke, wir sollten lieber nicht so viel reden. Das Reden und Denken bringt dich doch nur durcheinander.« Seine Finger kreisen sanft auf meiner Stirn. »Du brauchst mal eine Abwechslung. Eine Aufgabe, die dich beschäftigt.« Er holt einen Zettel aus der Tasche, auf dem die Namen von zehn Paaren stehen, und legt ihn neben mein französisches Teerosenparfüm. »Eine Dinnerparty. Vielleicht eine Vorgeburtstagsfeier für unser Baby. Lass dir mit Ruby das Menü einfallen, die Dekoration, ein Motto.« Er küsst mich auf die Wange. »Was denkst du?«