»Tja«, sagt Spencer daraufhin, »ich hab die Arbeit selbst beenden müssen.«
»Überrascht mich nicht.« Ein scharfes Klacken, als mein Vater sein Queue gegen eine Kugel stößt. »Stehlen, Lügen … würde mich nicht wundern, wenn Unzuverlässigkeit ein vererbbares Merkmal ist.«
»Na, der hier hatte auch noch wegen Mordes im Gefängnis gesessen.«
»Großer Gott …«
»Genau.« Spencer misslingt offenbar ein Stoß, denn er flucht leise. »Ich bin durchaus für Resozialisierung, aber ich möchte wirklich nicht riskieren, dass meine eigene Frau dadurch zu Schaden kommt.«
Ein lautes Klackern ertönt, mein Vater legt die Kugeln für ein neues Spiel auf. »Das Problem ist, dass das Sterilisationsgesetz nichts gegen die Degenerierten ausrichten kann, die bereits geboren sind«, sagt er. »Das müsste als Nächstes in Angriff genommen werden.«
Alles Blut weicht aus meinem Kopf. Er sagt das nicht mit Boshaftigkeit. Seine Worte können gar nicht voller Hass sein, weil er ja keinen der Menschen kennt, die er eliminieren will. Er und Spencer wollen nur die Welt verändern, sie für ihre Kinder verbessern.
Indem sie die Kinder von anderen loswerden.
Ich starre sie durch die offene Tür an. Spencer grinst freundlich. »Genozid ist nicht legal.«
»Nur wenn man sich erwischen lässt«, sagt mein Vater lachend und greift wieder nach seinem Queue. »Halbe oder Volle?«
Ich trete ins Zimmer, kalkweiß; Spencers Queue fällt klappernd zu Boden, und er ist mit wenigen Schritten bei mir. »Cissy?«, sagt er außer sich. »Was ist los? Ist was mit dem Baby?«
Mein Vater blickt besorgt. »Liebes, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Vielleicht stimmt das, denn gerade habe ich etwas gesehen, das im Grunde schon immer da war, ich war nur zu blind, es zu bemerken. Spencer windet mir die Teelöffel aus der Hand. »Lass das doch jetzt. Komm. Du musst dich hinlegen.«
»Ich will mich nicht hinlegen«, sage ich lauter werdend. Ich stoße Spencer weg, und die Teelöffel poltern zu Boden. Ich breche in Tränen aus.
»Ruf Dr. DuBois an«, sagt Spencer leise zu meinem Vater, der nickt und nimmt den Hörer von der Gabel.
Mit Ausnahme der abwesenden Mrs. Farr aus Monkton befürwortete jede Frau im Abgeordnetenhaus von Vermont die Verabschiedung des Sterilisationsgesetzes.
Burlington Free Press, 25. März 1931
Ich liege auf dem Bett, und Dr. DuBois, das Stethoskop noch im Ohr, blickt mich an und sagt dann in munterem Tonfalclass="underline" »Tja, dem Baby geht’s gut. Ich denke, du brauchst nur ein bisschen Ruhe.« Er schüttelt zwei Schlaftabletten aus einem Medizinfläschchen und beobachtet mich genau, als ich sie in den Mund stecke und einen Schluck aus der Tasse mit Wasser trinke, die er mir hinhält. »Gleich geht’s dir besser. Aber du kannst mich natürlich jederzeit rufen, Cissy, jederzeit, falls du irgendwelche … Fragen hast.«
Dann steht er auf und geht zu Spencer, der an der Tür wartet. Als sie sich leise murmelnd unterhalten, rolle ich mich auf die Seite und spucke die Tabletten aus.
Ich kann jetzt nicht schlafen, weil ich mich dann nicht wie verabredet heute Nachmittag mit Gray Wolf treffen kann. Natürlich werde ich mir jetzt nach Dr. DuBois’ Hausbesuch eine neue Entschuldigung ausdenken müssen. Vielleicht sage ich, dass ich in die Stadt fahre, um Pergamentpapier für die Einladungen zu unserer Dinnerparty zu kaufen. Sie begreifen einfach nicht, dass ich keine Pillen und keine Ruhe brauche. Ich brauche jemanden, der nicht von mir erwartet, dass ich mein Leben verschlafe.
Das Bett sinkt neben mir ein, als Spencer sich auf den Rand setzt. Ich drehe mich zu ihm, die Augenlider halb geschlossen. »Ich werde schon müde.«
»Da bist du nicht die Einzige«, entgegnet Spencer, und seine Stimme klingt gepresst.
Mir stockt der Atem.
»Wie kommt es, dass sich Dr. DuBois – der Arzt, den du in den letzten zwei Wochen wegen verschiedener Beschwerden sechsmal aufgesucht hast – gar nicht an die Besuche erinnern kann?« Sein Gesicht ist rot gefleckt. »Was um alles in der Welt könnte meine Frau gemacht haben, dass sie mich dafür anlügen muss?« Er hat die Hände um meine Schultern gelegt und schüttelt mich. »Nicht bloß einmal, sondern immer und immer wieder?«
Mein Kopf wackelt vor und zurück. »Spencer, es ist nicht so, wie du denkst.«
»Erzähl mir nicht, was ich denke!«, brüllt er. Und dann sackt er plötzlich in sich zusammen. »Cissy, Gott, was hast du mir angetan?«
Als ich sehe, dass er die Fassung verliert, setze ich mich auf und wiege seinen Kopf in meinem Schoß. »Spencer. Ich habe Spaziergänge gemacht. Allein. Ich wollte nur mal allein sein.«
»Allein? Du warst allein?«
Ich blicke ihm direkt in die Augen. »Ja«, erwidere ich, und auf meinen schwangeren Bauch deutend, sage ich gequält: »Schau mich doch an.«
»Das tu ich ja«, antwortet Spencer, »das tue ich.« Er gibt mir einen Kuss, und als er aufsteht, entschuldigt er sich. »Es tut mir leid, Cissy.« Ich drücke seine Hand, doch als er den Schlüssel zum Schlafzimmer aus der Kommode holt, wird mir klar, dass er sich nicht für das entschuldigt, was er getan hat, sondern für das, was er tun wird. »Dr. DuBois ist ganz meiner Ansicht – du kannst nicht allein bleiben. Vor allem jetzt nicht, wo du durch die Schwangerschaft emotional so labil bist. Er sagt, es besteht das Risiko, dass du dir … wieder etwas antust.«
»Und der Himmel verhüte, dass ich das irgendwo tue, wo mich jemand sehen könnte. Was sollen denn die Leute sagen, wenn sie wüssten, dass Spencer Pike mit einer Frau verheiratet ist, die eigentlich nach Waterbury gehört!«
Spencers Hand klatscht laut auf meine Wange, und ich bin stumm vor Entsetzen. Er starrt auf seine offene Hand, ebenso überrascht wie ich. Ich streiche mir mit den Fingerspitzen über die Wange und spüre den Abdruck anschwellen. »Ich tue das«, sagt Spencer steif, »weil ich dich liebe.«
Sobald sich die Tür hinter ihm schließt und der Schlüssel sich dreht, steige ich aus dem Bett. Ich hämmere gegen die Tür. »Ruby!«, schreie ich. »Ruby, lass mich sofort raus!«
Ich höre ein Kratzen auf der anderen Seite der Tür. »Ich darf nicht, Miz Pike. Der Professor hat es verboten.«
Ich schlage ein letztes Mal mit der Faust gegen das Holz. Von der Anstrengung ist mir in dem überhitzten Zimmer noch heißer geworden. Eine Prinzessin in einem Elfenbeinturm, genau das bin ich. Aber wenn der Prinz wüsste, dass ich im Grunde eine Kröte bin, würde er dann so darum kämpfen, mich zu behalten?
Ich frage mich, ob Gray Wolf sich Sorgen machen wird, wenn ich nicht komme.
»Nia Lia«, sage ich. Ich bin Lia. »N’kadi waji nikônawakwanawak.« Ich will nach Hause.
In Zukunft wird der Staat Vermont bemüht sein, die Fortpflanzung von Idioten, Schwachsinnigen oder Geistesgestörten zu verhindern, wenn es dem Wohl der Gesellschaft sowie dem Wohl von Idioten, Schwachsinnigen oder Geistesgestörten durch die hiermit verfügte freiwillige Sterilisation zugute kommt.
»Erlass über die freiwillige Sterilisation«,
Gesetze von Vermont (1931), Nr. 174, S. 194
Am dritten Tag meiner Gefangenschaft mache ich mir schon nicht mehr die Mühe, mich anzukleiden. Ruby ist zum Metzger gegangen, Spencer ist in der Universität. Das Radio dudelt vor sich hin, und das Herz meines Babys schlägt im Rhythmus der Musik.
Als ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht, wundere ich mich, dass Ruby schon so schnell wieder da ist. Doch selbst die Art, mit der sich Gray Wolf durch ein Zimmer bewegt, ist anders als bei jedem anderen Menschen. Ich setze mich auf, unfähig zu sprechen, und er kniet sich neben mein Bett und umarmt mich. »Du hast es ihm gesagt?«
»Nein.« Er riecht nach seinem Leben im Freien. Ich sauge ihn in mich auf.