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»Wieso hat er dich dann eingesperrt?«, fragt Gray Wolf entsetzt. Doch ehe ich es erklären kann, redet er schon weiter. »Als du nicht gekommen bist, dachte ich, dass du am Ende vielleicht doch auf mich gehört hast und lieber wegbleiben wolltest.«

»Ich würde nie …«

»Aber dann habe ich mir gedacht, dass du auf jeden Fall Lebewohl gesagt hättest. Und als du auch am nächsten Tag und dem Tag danach nicht gekommen bist … da bin ich in die Stadt gegangen. Da hatte dich auch niemand mehr gesehen. Und dann die Sache mit dem Lager …«

»Was ist damit?«

Er sieht mich an. »Es gibt keines mehr. Ich hatte in der Stadt übernachtet, und als ich zurückkam, war keine Menschenseele mehr da. Leere Zelte, Wäsche noch auf der Leine, Spielzeug auf dem Boden verstreut – als wären alle von einer Sekunde auf die andere aufgebrochen.«

»Wieso sollten sie wegziehen, ohne ihre Sachen mitzunehmen?«

»Weil jemand sie gezwungen hat«, sagt Gray Wolf ausdruckslos.

Ich denke an die alte Frau, die vor ihrem Zelt rauchte und Weidenkörbe flocht. An die Kleine, die mit einem Stock im Sand zeichnete und in Tränen ausbrach, als ein Hundewelpe ihr Kunstwerk zerstörte. Waren sie zusammengetrieben worden? In irgendwelche Anstalten gebracht und sterilisiert worden? Umgebracht?

»Erst bist du verschwunden … dann alle anderen …« Er drückt meine Hand. »Ein Mensch muss schon sehr viel Zorn in sich haben, um so viel Schaden anzurichten.«

Ich begreife, was er sagen will. »Du irrst dich«, sage ich zu Gray Wolf. »Das würde Spencer niemals jemandem antun.«

»Nicht mal, wenn er die Wahrheit erfahren hat?«

Wir starren einander an, ratlos, bis uns eine Stimme von der Tür her aufschreckt. »Und welche Wahrheit soll das sein?«, fragt Spencer leise.

Er hat die Flinte aus der Vorratskammer in der Hand und hält sie auf Gray Wolf gerichtet. »Du Dreckskerl«, sagt er. »Ich hab gesehen, wie du ins Haus eingebrochen bist. Ich hab gedacht, du wolltest stehlen, und ich wollte dich auf frischer Tat ertappen.« Er blickt auf unsere verschränkten Finger. »Aber wie ich sehe, musstest du gar nichts stehlen, nicht wahr? Es ist dir auf einem Silbertablett serviert worden.«

»Spencer, hör auf!«

Bevor ich aufstehen kann, stürzt sich Gray Wolf auf Spencer und schlägt ihm die Waffe aus der Hand. Spencer ringt ihn zu Boden und hält ihn fest. Er ist jünger und wütender. Seine Faust landet immer wieder in Gray Wolfs Gesicht, bis diesem Blut aus Nase und Mund quillt und er die Augen verdreht.

Ich will Spencers Arm festhalten, doch er stößt mich weg, und ich falle auf die Seite. Ein stechender Schmerz schießt mir durch den Unterleib in den Rücken. Ich zucke zusammen. »Bitte! Lass ihn los!«

Spencer reißt Gray Wolf am Hemdkragen hoch. »Der einzige Grund, dich nicht umzubringen, ist der, dass ich mich nicht auf dein Niveau begeben will«, keucht er und zerrt meinen Vater die Treppe hinunter. Ich folge ihnen, rutsche auf Blut aus, versuche, nicht auf den Schmerz zu achten, der an meiner Wirbelsäule entlangjagt. Als Spencer die Tür öffnet, um Gray Wolf hinauszustoßen, steht Ruby davor. Sie wirft einen Blick auf das malträtierte Gesicht und schreit auf, lässt die Tasche mit den Einkäufen auf die Veranda fallen.

»Lia.« Gray Wolf windet sich in Spencers Griff. »Komm mit mir.«

Das Baby in mir krampft sich zusammen und erinnert mich an die einzig richtige Antwort. »Ich kann nicht.«

Spencer stößt ihn so heftig von der Veranda, dass er mit dem Gesicht auf dem Boden landet. »Wenn du morgen noch in Comtosook bist«, schwört er, »sorge ich dafür, dass man dich bis an dein Lebensende ins Gefängnis steckt. Sag deinem Liebhaber Adieu, Cissy.«

»Er ist nicht mein Liebhaber!«, schreie ich, doch meine Stimme überschlägt sich. Als Spencer sich zu mir umdreht, sieht er, wie ich mich zusammenkrümme und auf das Fruchtwasser starre, das sich unter mir ausbreitet wie ein See.

So also ist meine Mutter gestorben: weit aufgerissen wie ein ausgerenkter Kiefer, ein ganzes Jahrhundert aus sich herauspressend, unfähig zu atmen, aus Angst vor dem, was als Nächstes kommt. Feuer rast von meinem Rücken zum Bauch, und mein Inneres krampft sich bei jeder Wehe enger zusammen. Ruby, genauso verängstigt wie ich, steht leise wimmernd am Fußende des Bettes und hofft darauf, mit ihren ausgestreckten Händen ein Wunder aufzufangen.

Es ist zu früh – für die Ankunft des Babys und für meinen Abschied.

Seit elf Stunden liege ich in den Wehen. Die ganze Zeit über war Ruby bei mir. Und Spencer hat sich in seinem Arbeitszimmer betrunken. Ich weiß nicht, ob er Dr. DuBois angerufen hat. Ich habe Angst vor der Antwort, so oder so.

»Ruby!«, rufe ich, und sie tritt neben mich. »Hör gut zu. Du hast mir versprochen, dass du dich um das Baby kümmern wirst.«

»Das werden Sie selbst können …«

»Nein, das werde ich nicht.« Und ich weiß es – die Ränder meines Gesichtsfeldes wabern grau; meine Arme sind so schwach, dass ich sie nicht bewegen kann. »Erzähl ihm von mir. Sag ihm, dass ich ihn ge-, oh Gott!« Ich verstumme, als wieder eine Wehe meinen Leib erfasst. Alles in mir schraubt sich nach unten, und ich nehme alle meine Kräfte zusammen, um zuzulassen, as da Großes geschieht. »Ruby«, flüstere ich. »Jetzt.«

Mir wird rot vor Augen, und in meinen Ohren rauscht der Ozean. Mein Körper ist eine Welle, die mich in Schmerz und Verzückung davonreißt. Ich öffne die Augen und erwarte, meine Mutter zu sehen, jetzt, da ich auf der anderen Seite bin, doch stattdessen blicke ich in das Gesicht meines Kindes.

Meine Tochter.

Ich habe so lange geglaubt, dass die Geburt mein Tod sein würde und dass das Kind in meinem Leib ein Junge war. Beides war unrichtig. In einer atemlosen Sekunde ist meine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden.

Sie weint, das süßeste Geräusch, das ich je gehört habe. Als Ruby die Nabelschnur durchtrennt und das Baby in Windeln wickelt, kommt Spencer ins Zimmer gestürzt. Seine Augen sind von einem unseligen Rot. Er stinkt nach Whiskey. »Du lebst«, sagt er heiser. »Cissy, Gott, du lebst.« Dann bemerkt er das Neugeborene in Rubys Armen.

»Mr. Pike«, sagt sie. »Schauen Sie sich doch Ihre kleine Tochter an.«

»Tochter?« Er schüttelt den Kopf. Das kann nicht sein.

Ich strecke die Arme aus, und Ruby reicht sie mir. Ich denke an meine Mutter, die dieses Glücksgefühl nie erlebt hat. Jetzt, da ich die Kleine gefühlt und gehört habe, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich meinem Leben ein Ende machen wollte, ohne sie wachsen und gedeihen zu sehen. Es wird der Augenblick kommen, da sie mich anlächelt, der Augenblick, da sie ihre ersten unsicheren Schritte macht. Wie könnte ich das versäumen?

Ich lege sie in meine Armbeuge. »Ihr Name ist Lily«, sage ich.

Spencer tritt näher und blickt nach unten auf unser Baby. Auf ihr Gesicht – dunkel, rund wie der Mond, mit den flachen Gesichtszügen des Volkes, aus dem ihr Großvater stammt.

Als Spencer mich ansieht, begreife ich, dass er gehofft hat, das Baby würde ein Neuanfang sein, anstatt ihn umso heftiger zu beunruhigen. »Lily«, wiederholt er und schluckt.

»Spencer, es ist nicht so, wie du denkst. Gray Wolf – dieser Mann –, er ist mein Vater. Du kennst dich doch mit Vererbungslehre aus … du weißt, warum sie so aussieht. Aber sie ist von dir, Spencer, das musst du mir glauben.«

Spencer schüttelt den Kopf. »Dr. DuBois hat gesagt, dass du nach der Geburt verwirrt sein könntest … Wir sollten ihn holen, damit er nach dir sieht.« Er nimmt das Baby aus meinen Armen und dreht sich zu Ruby um, die Augen stumpf, die Stimme ruhig. »Nimm bitte den Wagen und hole den Doktor, Ruby.«

»Den Wagen …?« Sie ist noch nie mit dem Packard gefahren, aber sie ist klug genug, Spencer jetzt nicht zu widersprechen. »Ja, Sir«, murmelt Ruby und stiehlt sich an ihm vorbei.