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Andererseits war da draußen vielleicht nur jemand im Dunkeln gestolpert und hatte sich verletzt.

So oder so, dachte Az müde, er würde nachsehen müssen.

Ross saß auf dem Boden des Zeltes, Az Thompsons Indianerdecke um die Schultern gewickelt. Hose und Hemd waren völlig verdreckt. Das nasse Haar fiel ihm in die Augen, während er den Instantkaffee trank, den der alte Mann mit einem batteriebetriebenen Tauchsieder zubereitet hatte. Er zitterte wie Espenlaub, nicht wegen der Feuchtigkeit, die ihm bis ins Mark drang, sondern wegen einer Frau, die nach Rosen duftete. Einer Frau, in die er sich … verliebt hatte. Eine Frau, die nicht mehr lebte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Az.

Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.

Ross konnte nicht antworten. Er beugte den Kopf zum Kaffeebecher und nahm einen Schluck, der ihm heiß in der Kehle brannte. Tränen schossen ihm in die Augen.

Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Haut durchscheinend wurde. Er hatte das Entsetzen in ihrem Gesicht gesehen, als sie auf den Grabstein hinabblickte und ihren Namen sah. Sie hatte keine Ahnung gehabt, genauso wenig wie Ross. Ross, der sich intensiv mit dem Übersinnlichen beschäftigt hatte, der wusste, dass ein Dämon faulig stank und dass ein Poltergeist seine Energie aus jungen Mädchen zog, hatte nicht gewusst, dass ein Geist einen Kuss erwidern konnte.

Konnte ein Geistwesen auch wegen eines geliebten Menschen zurückkehren, den es noch gar nicht kennengelernt hatte?

Die Pritsche quietschte, als Az sich daraufsetzte. Er faltete die Hände im Schoß und starrte Ross mit brennenden schwarzen Augen an. »Wollen Sie drüber reden?«, fragte Az leise.

Ross schüttelte den Kopf. Er konnte nicht.

Eli saß auf der Couch und wartete, während Shelby Wakeman sich oben anzog. Er saß auf der linken Seite, fürchtete dann aber, wenn sie zurückkam, könnte sie denken, er hätte es sich gemütlich gemacht, mit dem Arm auf der Lehne, also rutschte er in die Mitte und drehte seine Uniformmütze in den Händen, bis Shelby ins Zimmer kam und die ganze Luft wegnahm, einfach so.

»Tut mir leid. Normalerweise gehe ich nicht an die Tür, wenn ich noch nicht präsentabel bin.«

»Präsentabel?«, fragte Eli.

»Richtig angezogen und so weiter.« Shelby lächelte verlegen und setzte sich Eli gegenüber, strich sich das Haar hinter die Ohren. »Und Ross hat wirklich … keinen Ärger?«

»Mit mir jedenfalls nicht«, versicherte Eli ihr.

Eli hätte auch bis zum nächsten Morgen warten können. Doch er war so mit dem Rätsel beschäftigt gewesen, das durch Frankies DNA-Ergebnisse noch verwirrender geworden war, dass er auch um diese Zeit dringend jemanden brauchte, der ihm weiterhalf. Gray Wolfs DNA war nicht an dem Seil gewesen, doch damit schied er als Mordverdächtiger nicht unbedingt aus. Vielleicht war Spencer Pikes DNA an dem Seil, doch damit war er nicht automatisch der Täter. Die Frage blieb, wer hatte Cissy Pike ermordet? Und war sie in jener Nacht das einzige Opfer gewesen?

Eli versuchte, sich das alles in Erinnerung zu rufen – und dass er nicht in dieses Haus gekommen war, weil Shelby Wakeman ihm seit drei Wochen durch den Kopf geisterte. Sie roch nach Äpfeln, genau wie sein Schlafzimmer morgens, wenn er von ihr geträumt hatte. Jetzt sah sie noch schöner aus.

Eli räusperte sich. »Ich, äh, ich halte es für möglich, dass Ihr Bruder nützliche Informationen zu einem Fall hat.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Ross geht kaum aus, und wenn er in letzter Zeit außer Haus war, dann um zu arbeiten.«

»Auf Geisterjagd«, sagte Eli.

»Ja.« Shelby hob den Kopf. »Sie denken bestimmt, er ist ein Spinner.«

Eli wollte schon nicken, aber dann stammelte er: »Ich weiß nicht, was ich denke.«

Shelby wurde es plötzlich heiß, und sie stand abrupt auf, murmelte etwas, was sich anhörte wie xerothermisch, während sie sich abmühte, ein Fenster zu öffnen, das klemmte. »Moment«, sagte Eli und trat neben sie. Ihre Schultern berührten sich. Eli riss das Fenster mit zu viel Wucht nach oben, und ein kühler Luftzug fiel wie eine Guillotine zwischen sie.

»Danke.«

Eli starrte sie an. »Gern geschehen.«

Was immer Eli auch sagen wollte – und in dem Augenblick hätte er wirklich keine Worte finden können –, es ging in einem Hagel von Schritten unter, die die Treppe hinuntergepoltert kamen. »Verzeihung. Ich wusste nicht, dass da oben jemand schläft.«

»Ethan hat nicht geschlafen«, sagte Shelby, als der Junge ins Zimmer kam. Er war klein, mager und trug für die Jahreszeit viel zu viele Kleidungsstücke. Eine Mütze überschattete seine Augen, doch obwohl sein Gesicht halb bedeckt war, konnte Eli sehen, dass die Haut des Jungen milchweiß wie Porzellan war. Eine Hand war bandagiert, und die andere hatte an mehreren Stellen Blasen, als wäre sie in kochendes Wasser getaucht worden. Er hatte das lebhafte Lächeln seiner Mutter.

»Ethan, du kannst nach draußen«, sagte Shelby im Befehlston.

»Aber es regnet …«

»Nicht mehr. Geh.« Sie wartete, bis die Tür ins Schloss fiel und seine Skateboardräder über die Zufahrt ratterten. Dann wandte sie sich Eli zu und verschränkte die Arme, eine ganz andere Frau als die, die er eben noch vor sich gesehen hatte. »Das ist mein Sohn.«

Eli sah, wie ihre Finger sich in die Haut ihrer Arme gruben. Sie stand stocksteif da.

»Sie denken, mit ihm stimmt was nicht«, sagte sie vorwurfsvoll.

Er hätte ihr gern mit der Hand über den Rücken gestrichen. Er hätte sie gern in die Arme genommen.

»Eigentlich«, sagte Eli, »hab ich gerade gedacht, er sieht aus wie Sie.«

Der Laut war kaum zu vernehmen, doch er hallte durch Spencer Pikes Schädel. Wie viele Kissen er sich auch über den Kopf legte, das Schreien des Babys hörte er trotzdem noch. Spencer wand sich, zerkratzte sich die Ohren, bis ihm Blut in den Pyjamakragen lief.

»Mr. Pike! Um Himmels willen. Ich brauche hier jemanden, der mir hilft!«, schrie die Krankenschwester in die Sprechanlage.

Zwei Pfleger waren erforderlich, um Spencer die Arme nach unten zu drücken, bis er am Bett festgeschnallt war. »Das Baby«, keuchte Spencer, während die Krankenschwester die tiefen Kratzwunden um seine Ohren betupfte. »Schafft das verfluchte Baby weg.«

»Hier ist kein Baby. Sie hatten bestimmt einen Albtraum.«

Tränen liefen ihm über das Gesicht. Das Geräusch zerriss ihm den Schädel. Wieso konnten sie es nicht hören? »Das Baby«, schluchzte er.

Die Krankenschwester gab ihm eine Beruhigungsspritze. »Gleich geht’s Ihnen wieder besser.«

Aber das stimmte nicht. Er würde nur einschlafen, und im Schlaf würde das Baby auf ihn warten. Er lag ganz still da, starrte an die Decke, während das Beruhigungsmittel sich in ihm ausbreitete. Er spürte, wie seine Hände sich entspannten, dann die Beine und schließlich sein Kiefer. »Wann werde ich sterben?«, dachte Spencer, doch er hatte offenbar laut gesprochen.

Denn die Krankenschwester blickte ihn unverwandt mit ihren braunen Augen an. »Bald«, sagte sie sanft.

Spencer seufzte. Ihre Antwort brachte ihm größere Erleichterung, als es irgendein Medikament vermocht hätte.

Männer, fand Meredith, waren ein Accessoire. Man brauchte nicht unbedingt einen, um sein Aussehen zu vervollkommnen.

Jetzt, um kurz vor elf Uhr abends, war sie auf dem Weg nach Hause. Die Fahrt vom Büro war die einzige Zeit am Tag, zu der sie es sich erlaubte, an andere Dinge als an ihre Arbeit zu denken.

Es regnete. Meredith dachte an Lucy, bei der sich noch immer keine Besserung abzeichnete, obwohl sie das Risperdal nicht mehr nehmen musste. Eher war ihre Tochter noch wunderlicher geworden – sie sprach beim Frühstück mit Leuten, die gar nicht da waren, und schnallte im Auto auf dem Sitz neben sich etwas nicht Vorhandenes an. Meredith hatte eine Schwäche für wissenschaftliche Tatsachen, sagte sich aber, dass ihre Tochter die genetische Anlage zu blühender Phantasie in sich trug.