– Mr. Tollande, haben Sie Gray Wolf in den letzten Tagen gesehen?
– Nicht mehr seit dem Abend in der Kneipe.
– Wissen Sie, wo wir ihn finden könnten?
– Er ist ziemlich viel unterwegs.
– Das seid ihr doch alle. Und ihr lügt auch alle, nicht wahr?
Als Eli die stickige, übervolle Stadtbibliothek von Comtosook betrat, war sein erster Gedanke, dass jemand, der so viel Frische ausstrahlte wie Shelby Wakeman, nicht an einen so muffigen Ort gehörte.
Shelby blickte von ihrem Computerbildschirm auf. »Na, das ist aber eine Überraschung«, sagte sie, stand auf und kam um die Theke herum. Sie sah Watson an, der so heftig mit seinem Schwanz wedelte, dass sein ganzer Kopf bebte. »Du darfst eigentlich nicht hier rein«, sagte sie tadelnd und streichelte ihn dabei. »Aber einem Polizisten kann ich ja wohl kaum Vorschriften machen.«
Als sie ihn anlächelte, fing Elis Herz an zu rasen. »Hi«, brachte er heraus. Und kam sich sehr unoriginell vor.
»Irgendeine bestimmte Lektüre vor Augen?«, fragte Shelby, und erst als Eli den Mund schon geöffnet hatte, merkte er, dass sie mit Watson sprach. »Der Hund von Baskerville könnte dir gefallen.«
»Heute begleitet er mich bloß«, grinste Eli. »Ich suche nach standesamtlichen Unterlagen aus den 1930er-Jahren.«
In Wirklichkeit war er nur gekommen, um Shelby zu sehen.
Shelby blickte ihn neugierig an, fragte sich wahrscheinlich, wieso ein Polizist nicht wusste, dass sämtliche standesamtlichen Unterlagen in der Stadtverwaltung lagerten, gleich nebenan vom Polizeirevier. »Hm … aber die sind nicht hier.«
»Können Sie sie mir zeigen?«
Shelbys Kollegin gab ihr ein Zeichen, dass sie ruhig gehen könne. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter, Watson zwischen ihnen. Draußen angekommen, blinzelte Shelby in die Sonne.
»Herrliches Wetter, nicht?«
Sie nickte. »Ich weiß schon nicht mehr, wie hell es wird, manchmal.«
»Sie meinen, weil Sie den ganzen Tag in der Bibliothek arbeiten?«
»Und weil ich die ganze Nacht mit Ethan aufbleibe. Er kann nur im Dunkeln zum Spielen nach draußen.« Sie gingen die Main Street hinunter.
»Und wann schlafen Sie?«
Sie lächelte tapfer. »Es geht nun mal nicht anders.«
Ein Kind auf einem Roller fuhr links an ihnen vorbei, drängte Shelby näher an Eli. Er spürte die elektrische Spannung, die ihre plötzliche Nähe auslöste. Wie würde sie sich wohl in seinen Armen anfühlen?
In der Stadtverwaltung folgte er Shelby die Steintreppe hinauf und in den ersten Raum auf der rechten Seite. »Lottie«, sagte sie zu der gewichtigen Angestellten, »hast du abgenommen?«
Die Frau strahlte übers ganze Gesicht. »Ich glaube, die Diät schlägt an«, kicherte sie und winkte sie durch, ohne Fragen zu stellen.
Der Keller war dunkel und moderig, Spinnweben schmückten die Decke. Watson jagte ein Nagetier hinter einen Stapel Kartons. Unbeirrt kletterte Shelby über ein paar Kisten in einen engen Gang mit verstaubten Aktenschränken. Sie öffnete eine Schublade und holte einen Stapel vergilbter Karteikarten heraus. »Die sind von 1932.«
Verdattert starrte Eli Shelby an. »Haben Sie auch übersinnliche Kräfte?«
»Ross hat keine übersinnlichen Kräfte«, stellte Shelby klar. »Und nein, ich auch nicht. Beim letzten Mal, als ich hier war, hab ich lange nach ihnen suchen müssen, bis ich endlich fündig wurde.«
Er trat näher und stellte sich neben sie, merkte erst jetzt, dass der Gang für zwei zu schmal war. Eli konnte ihren Atem an seiner Schulter spüren.
»Warum machen Sie das?«, fragte Shelby leise. »Es ändert doch ohnehin nichts.«
Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass sie den Mordfall meinte. Eli zuckte die Achseln. »Menschen machen nun mal jeden Tag die verrücktesten Sachen.« Ein Sonnenstrahl fiel von dem Kellerfenster auf ihr Gesicht, als wollte er das einzig Schöne hier unten erhellen. Eli beugte sich vor, auf das Licht zu.
Shelby wich so plötzlich zurück, dass eine kleine Wand aus Kartons umstürzte und ihr Inhalt polternd auf dem Boden landete. Sie drückte Eli den Stapel Karten in die Hand. Irgendwo nieste Watson. »Das, ähm, was Sie suchen, müsste ganz vorn sein«, murmelte sie.
Eli zwang sich zur Konzentration und richtete nun seine ganze Aufmerksamkeit auf den brüchigen Packen Totenscheine in seiner Hand. Er sah den von Cecelia Pike, der von demselben Gerichtsmediziner unterzeichnet worden war, der auch die Obduktion durchgeführt hatte. Der Arzt war von der Polizei von Comtosook hinzugezogen worden, die um 10 Uhr 58 zu einem angeblichen Mordfall gerufen worden war. Cecelia Pikes Tod war um 11 Uhr 32 bestätigt worden. An dem Totenschein klebte, wie es aussah mit Blut, ein weiterer Totenschein, der auf das Neugeborene ausgestellt war, ebenfalls um 11 Uhr 32. Eli erinnerte sich an sein Gespräch mit Wesley Sneap, der gesagt hatte, dass Cecelia Pike, wenn sie gegen Mitternacht erhängt worden war, gegen sechs oder sieben Uhr am Morgen abgeschnitten und in eine horizontale Lage gebracht worden sein musste. Aber die Polizei war erst um elf verständigt worden … Pike hätte also jede Menge Zeit gehabt, den Tatort zu manipulieren.
Er blickte auf, als er Schritte hörte, dann Lärm und das Gepolter von Watson, der jemanden begrüßte. »He, du Stromer. Ich muss dir was sagen – du bist gar kein Pekinese!«, sagte Frankie Martine. Sie trug Jogginghose und T-Shirt. Das blonde Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden, und obwohl sie ungeschminkt war, hätte sie es mit jedem Model aufnehmen können. Das war das Kreuz, das Frankie zu tragen hatte – sie war Marie Curie im Körper von Marilyn Monroe. »Eli Rochert. Gar nicht leicht, dich zu finden, wenn du dich derart verkriechst!«
Eli lächelte. »Mensch, Frankie, ich wusste gar nicht, dass du auch Hausbesuche machst. Wieso bist du hier?«
»Was ich dir zu sagen habe, kann ich dir unmöglich telefonisch mitteilen.« Sie spähte über seine Schulter, und ihm fiel ein, dass da Shelby stand.
»Frankie Martine, das ist Shelby Wakeman. Shelby ist …«
»In Eile«, murmelte Shelby. »Ich, ähm, muss jetzt los.« Und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, befreite sie sich aus dem Haufen Kartons und floh die Treppe hinauf.
»Deine Freundin wird stink-sau-er sein«, sang Frankie, als Eli sie in sein Privatlabor geleitete. Sie nahm Platz und legte ihre Füße auf Watson.
»Sie ist nicht meine Freundin. Noch nicht.«
»›Noch nicht‹ ist gut, das vorhin hat dich um drei Monate zurückgeworfen.«
Eli blickte missmutig. »Kann ich was dafür, dass du so schön bist?«
»Sollte das etwa ein Kompliment sein?« Frankie beugte sich vor, zog ein Blatt aus einem Stapel. »Na los. Gib’s zu. Du liebst mich.«
Und das stimmte. Denn so gut Elis Ermittlungen auch waren, sie brachten nicht das Geringste, wenn Frankie mit den DNA-Spuren, die ein Täter hinterlassen hatte, nichts anfangen konnte. Sie sah seine Beweismittel durch – die Kleidung und Gegenstände, die ihr nicht zugeschickt worden waren. »Hübscher Abdruck.«
»Den hab ich von der Pfeife genommen, bevor ich sie dir gegeben habe«, sagte Eli.
»Ach ja? Von wem ist der?«
»Vom Opfer, seltsamerweise.«
»Hmm«, sagte Frankie, ohne näher darauf einzugehen. »Wieso hab ich das hier nicht gekriegt?« Sie hielt das Nachthemd des Opfers hoch. Auf einer Seite war ein kleiner brauner Fleck.
»Wie viel Blut brauchst du denn? Du hattest doch den Rest von ihrer Kleidung.«
»Die Farbe hier stimmt nicht.« Frankie spitzte die Lippen. »Ich meine, ich krieg zwar nicht gerade oft siebzig Jahre altes Blut zu sehen, aber trotzdem.« Sie knüllte das Nachthemd zusammen und stopfte es in ihre schwarze Tasche. »Nur für den Fall, dass ich mich langweile, wenn ich meine Freunde im Labor in Montpelier besuche.« Dann drückte sie ihm eine Akte in die Hand. »Wirf mal einen Blick hier drauf.«