»Nicht auf ihn draufsetzen!« Sie wich zurück, als Passanten sie anblickten. »Mommy, was ist mit dem Jungen da?«
Sie zeigte auf eine Stelle. Aber da war kein Junge. »Lucy, was hast du?«
Ihre Augen waren weit aufgerissen und wild. »Der Junge, der da hinten sitzt, mit den Gefängnissachen an, wie sie sie im Zeichentrickfilm anhaben. Und die Frau ohne Haare und die anderen Kinder, wie Skelette, aber sie bewegen sich trotzdem. Siehst du sie denn nicht?«
Ein Mann sprach Meredith an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Danke, alles in Ordnung«, sagte sie barsch. »Hol tief Luft, Lucy, und sag mir, was du siehst.«
Der Mann ließ sich nicht abwimmeln. »Ich hole schnell Hilfe«, sagte er und verschwand. Meredith blickte ihm nach und sah, wie er in das Gebäude vor ihnen lief: das Holocaust-Museum.
»Das sind die, die zurückgeblieben sind«, wimmerte Lucy.
Der Gerichtsbeschluss zur Exhumierung sterblicher Überreste auf dem Pike-Grundstück brannte wie Feuer in Elis Tasche, doch er ließ ihn, wo er war, wie ein Stück glühende Kohle dicht am Herzen, eine Erinnerung daran, was er vorhatte und warum. Frankies DNA-Analyse hatte seinen Ermittlungen eine unerwartete Wendung gegeben. Wenn Gray Wolf Cecelia Pikes leiblicher Vater gewesen war, dann hatten die beiden wohl kaum eine Affäre gehabt. Der Medizinbeutel und auch die Pfeife könnten Geschenke gewesen sein. Doch Eli hielt Pike nach wie vor für den Mörder. Gray Wolf war erst kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden und hatte augenblicklich die Tochter ausfindig gemacht, die er noch nie gesehen hatte. Falls Cecelia erfahren hatte, wer ihr wirklicher Vater war, könnte sie das ihrem Mann verschwiegen haben, sodass Spencer Pike vielleicht falsche Schlüsse gezogen hatte, als er seine Frau mit einem Indianer zusammen sah. Oder aber Pike hatte die Herkunft seiner Frau herausgefunden und dadurch seine Karriere gefährdet gesehen. Daher hatte er den Beweis einfach aus dem Weg geräumt.
Wie auch immer, der Protest der Abenaki wegen des Friedhofs war berechtigt gewesen.
Er fand Az Thompson im Morgengrauen am Ufer des Winooski beim Angeln. Die mageren Schultern des alten Mannes bewegten sich unter dem Stoff seines Hemdes, während er an der Kurbel drehte und den Köder auswarf. »Mein Großvater hat mal im Lake Champlain einen Stör gefangen«, sagte Eli, als er von hinten auf ihn zutrat.
»Die gibt’s da«, sagte Az.
»Meine Mutter hat mir erzählt, dass er das Biest an seinem Kanu festbinden und sich im Kreis herumziehen lassen musste, bis es müde wurde, dann erst konnte er es ins flache Wasser schleppen und hat es totgeschlagen.«
»Geduld ist das A und O«, pflichtete Az bei.
Eli sah zu, wie er einen weiteren Fisch in seinen Eimer warf. »Ich brauche Ihre Hilfe. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass Cecelia Pike eine Halb-Abenaki war.«
Az stockte nur eine Sekunde. »Abenaki«, wiederholte er leise. »Glauben Sie, die Morgendämmerung ist für Menschen, die nicht nach ihr benannt sind, genauso schön?«
Eli wusste, dass der Alte keine Antwort erwartete. »Ich weiß, es müsste eine Art – äh, ich meine, gibt es denn keine Zeremonie? Einen Ort, wohin sie und ihre Tochter gebracht werden können?«
Az blickte auf. »Was wird aus dem Grundstück?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Eli.
Der Alte schien sich mit der Antwort zu begnügen. »Ich kümmere mich um sie«, sagte er.
Als Cecelia Pike ermordet wurde, war Duley Wiggs zwanzig Jahre alt und erst seit acht Tagen Polizist. Jetzt hatte er Alzheimer im Anfangsstadium und lebte bei seiner Tochter Geraldine. »An manchen Tagen ist er fast normal«, sagte sie müde zu Eli, als sie mit ihm vor der Schiebetür zur Veranda stand, wo Duley in einem Rollstuhl saß. »Und dann gibt es Tage, an denen er nicht genau weiß, was er mit einem Löffel anfangen soll.«
»Danke, dass ich mit ihm reden darf.«
»Mit ihm reden ist kein Problem«, sagte Geraldine achselzuckend. »Aber er bringt vieles durcheinander. Nehmen Sie nicht alles, was er sagt, für bare Münze.«
Eli nickte und folgte ihr auf die Veranda. »Daddy? Daddy, hier ist jemand, der dich sprechen möchte. Detective Eli Rochert aus Comtosook. Du weißt doch noch, dass du mal in Comtosook gewohnt hast, nicht?«
»Ich hab mal in Comtosook gewohnt, wissen Sie«, sagte Duley. Er schüttelte Eli die Hand.
»Hallo, Duley.« Eli hatte seine Ausgehuniform angezogen, in der Hoffnung, den Erinnerungen des alten Mannes dadurch auf die Sprünge zu helfen. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Miranda, lass uns zwei bitte allein, ja?«, sagte Duley.
»Ich bin Geraldine, Daddy.« Sie seufzte und ging dann wieder ins Haus.
Eli setzte sich. »Erinnern Sie sich noch an irgendwelche Mordfälle in der Zeit, als Sie in Comtosook Polizist waren?«
»Mordfälle? Oh ja, sicher. Wir hatten jede Menge Mordfälle. Ach, nein, eigentlich waren das eher Einbrüche. Eine ganze Serie in den Vierzigerjahren. Die gingen auf das Konto von zwei Teenagern, die sich für Bonnie und Clyde hielten.«
»Aber die Mordfälle …«
»Einen gab es«, sagte Duley. »Das, was der armen Cissy Pike angetan wurde, kann man nicht vergessen. Ich kannte sie persönlich. Wir sind auf dieselbe Schule gegangen. Sie war zwei Jahre jünger als ich. Hübsches Ding und auch ein heller Kopf. Genau wie ihr Vater. Er war Astronaut.«
»Er war Professor, Duley.«
»Hab ich doch gesagt!« Der alte Mann blickte verärgert. »Hören Sie besser zu, ja?«
»Natürlich. Tut mir leid. Also … Sie wollten über den Mord an Cissy Pike sprechen …«
»Sie war mit einem hohen Tier von der Universität verheiratet. Pike. Die Leute im Ort hielten ihn für etwas scheinheilig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber er hat Cissy auf Händen getragen. Als wir bei ihnen zu Hause ankamen, nachdem er uns verständigt hatte – tja, ich hatte noch nie einen erwachsenen Mann so weinen sehen, wie ein Baby.« Er schüttelte den Kopf. »Und dass er dann die Pistole gegen sich gerichtet hat, direkt vor unseren Augen …«
»Duley«, sagte Eli sanft. »Spencer Pike hat nicht Selbstmord begangen.«
»Selbstmord? Ach ja, stimmt. Das war bei einer Geiselnahme in einem Postamt in den Fünfzigerjahren.« Er rieb sich die Stirn. »Manchmal … manchmal gerät hier oben alles ein bisschen durcheinander.«
»Ist nicht schlimm.« Eli drehte seine Mütze in der Hand. Vielleicht war das hier ja doch Zeitverschwendung.
»Der Gerichtsmediziner wollte damals das Baby obduzieren.«
Eli wurde hellhörig. »Ach ja?«
»Ja. Und Olivette – das war der Detective-Lieutnant – wollte nicht zulassen, dass das Grab wieder geöffnet wurde. Er hat gemeint, einem Mann wie Spencer Pike sollte man nicht mehr zumuten als unbedingt nötig.«
»Das Baby war also schon begraben, als ihr zum Tatort kamt.«
»Jawohl. Ein Stückchen weiter weg, im Wald. Frische Erde und sogar ein paar Blumen. Pike hat uns erzählt, dass das Kind tot zur Welt gekommen war und seine Frau einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Er sagte, er habe das Baby beerdigt, um es ihr nicht noch schwerer zu machen.«
»Mir hat Pike erzählt, er hätte seine Frau und sein Baby am selben Tag beerdigt.«
»Nein, das weiß ich genau. Ich war auf Cissy Pikes Beerdigung. Es waren nicht viele da – ich und Olivette und ihr Vater und Pike, gerade genug, um den Sarg hinabzulassen. Das Ganze war damals ein ziemlicher Skandal – er wollte sich nicht von den Frauen aus der Gemeinde bekochen lassen, obwohl sein Hausmädchen doch auf und davon war. Er hat Cissy gleich neben dem Grab beerdigt, in dem sein Baby lag.«
»Hat er gesagt, warum er die Polizei erst so spät verständigt hat?«, fragte Eli.
»Ach, das war gar nicht nötig. So wie der nach Alkohol gerochen hat. Hatte sich in der Nacht davor ordentlich volllaufen lassen.« Duley blickte zum Haus. »Ich habe drei Töchter, und ich kann mir nicht mal vorstellen, wie es für mich gewesen wäre, wenn sie tot auf die Welt gekommen wären. Ich denke, Pike wollte ein bisschen Trost in der Flasche suchen. Aber anscheinend hat er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken … hat nichts davon mitgekriegt, dass jemand ins Haus eingedrungen ist und seine Frau mitgenommen und das Haus demoliert hat. Und als er wieder zu sich kam, war der Vormittag schon halb um. Er hat uns kurz vor der Mittagspause angerufen, zum Glück für mich, weil ich deshalb weniger im Magen hatte, was ich auskotzen konnte, als ich Cissy sah.«