Laut Wesley musste Cecelias Leichnam sehr viel früher abgeschnitten worden sein.
Eli überlegte eine Weile, dann fragte er: »Was wissen Sie noch über Gray Wolf?«
»Gerissener Bursche. Er war ein Zigeuner, müssen Sie wissen – heute würde man sagen, amerikanischer Ureinwohner. Lügen, Klauen, das war für ihn ganz normal. Alle wussten über ihn Bescheid und über seine Familie, und er hatte wegen Mordes gesessen, war gerade erst aus dem Knast gekommen. Pike sagte, dass der Bursche Cissy in den Wochen davor belästigt hatte. Er war verdächtig, weil wir Sachen von ihm am Tatort gefunden hatten. Außerdem hatte sein Alibi eine Riesenlücke. Und als er dann verschwand, da sahen wir unseren Verdacht natürlich bestätigt.«
Eli kratzte sich am Kopf. »Ja, wie ist er denn eigentlich verschwunden?«
Röte stieg dem alten Mann am Hals hoch. »Tja, das … das war eindeutig meine Schuld. Ich war erst eine Woche im Dienst, und ich wollte den Helden spielen. Also bin ich mitten in der Nacht los, ich hab Gray Wolf in einer Kneipe entdeckt und ihn zum Verhör mit aufs Revier genommen. Aber Olivette hat getobt, wir hätten noch nicht genug gegen ihn in der Hand, und ihn aufs Revier zu schleppen würde ihn nur warnen. Wir haben ihn ein bisschen gepiesackt, wie das früher so üblich war, aber er hat nichts gestanden. Olivette hat mich dann beauftragt, ihn zu beschatten …« Duleys Blick glitt über den Garten. »Und er ist mir durch die Lappen gegangen. War von einer Minute zur anderen wie vom Erdboden verschluckt.« Er leckte sich die Lippen, beugte sich vor und flüsterte: »Ich hab ja so meine Theorie, was aus ihm geworden ist.«
»Da bin ich aber gespannt.« Eli ging ganz dicht an ihn heran.
»Ich glaube …« Duley legte seine fleckige Hand an Elis Ohr. »Ich glaube, Oswald war nicht allein, als er geschossen hat, da war noch ein zweiter Schütze.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Verstehen Sie?«
Eli seufzte. »Absolut.«
Als Ethan aufwachte, war es draußen noch hell. Er schloss die Jalousie wieder und machte die Augen zu, um, wie sein Onkel es ihm beigebracht hatte, zu erspüren, was im Haus los war.
Seine Mutter war bei der Arbeit, was ihm nur lieb war, weil sie in letzter Zeit eine ganz schöne Nervensäge war.
»Was ist eigentlich los mit dir?«, hatte Ross sie gestern Abend beim Frühstück gefragt. Und seine Mutter hatte seine Frage so angestrengt überhört, dass sie sich am Herd verbrannt hatte. Sie war in Tränen ausgebrochen und hatte geschrien: »Da siehst du’s, das ist nur deinetwegen passiert.«
Sie war wirklich nicht ganz normal.
Ethan schwang die Beine über die Bettkante. Er zog die Sachen von gestern an, die noch auf dem Boden lagen. Er öffnete leise die Tür und schlich über den Flur zum Zimmer seines Onkels. Die Tür war zu, wie die ganze Zeit schon. Er sollte eigentlich auf Ethan aufpassen, aber andererseits sollte Ethan eigentlich schlafen.
Unten zog sich Ethan Jacke und Mütze über, rieb Gesicht und Hände mit Sonnenmilch ein, weil man alte Gewohnheiten nun mal nicht so schnell ablegt. Dann ging er durch die Seitentür – die quietschte nämlich nicht – nach draußen.
Die Sonne war wie ein Kuss in den Nacken – unglaublich, wie hell ein Nachmittag sein konnte. Ethan nahm sein Skateboard und trug es unter dem Arm. Er ging die Zufahrt hinunter und bog nach rechts, stellte dann das Skateboard auf die Straße und rollte los. Ein Junge auf einem BMX-Rad überholte ihn, auf dem Kopf einen nach hinten gedrehten Mützenschirm. »Hi«, rief der Junge, als wäre Ethan ein ganz normales Kind.
»Hi«, erwiderte er, froh über die Begrüßung.
»Geiles Skateboard. Aber wieso hast du Winterklamotten an?«
Ethan zuckte die Achseln. »Wieso hast du so eine blöde Mütze auf?«
Der Junge fuhr einen engen Kreis. »Ich will zum Skateboard-Park. Kommst du mit?«
Ethan bemühte sich um eine möglichst ausdruckslose Miene, aber es fiel ihm schwer, so real, wie er sich fühlte. Man existierte erst dann richtig in dieser Welt, so wurde ihm jetzt klar, wenn man nach draußen konnte und die Welt von einem Notiz nahm. »Von mir aus«, sagte er gleichgültig und strahlte innerlich vor Freude. »Ich hab grad nichts Besseres vor.«
Und wenn sie ihn geküsst hätte?
Nach mittlerweile drei Tagen bekam Shelby die Frage nicht mehr aus dem Kopf, als hätte sie sich wie ein Dorn in ihren Gedanken verfangen. In allen quälenden Einzelheiten durchlebte sie erneut den Augenblick, in dem sie und Eli in einem zu kleinen Raum einander zu nah gewesen waren. Wie seine Haut gerochen hatte, die winzige Narbe, die sie hinter seinem rechten Ohr gesehen hatte. Im Bett liegend, hatte sie überlegt, woher sie wohl stammen mochte.
Frankie Martine. Bei einer Frau, die so aussah, spielte es keine Rolle, wenn sie einen Jungennamen hatte.
Eifersüchtig war sie aber ganz bestimmt nicht. Schließlich kannte sie Eli Rochert kaum. Außerdem war romantische Liebe etwas Egoistisches. Und sie hatte sich ohnehin ganz und gar Ethan verschrieben, da war sicherlich nichts mehr übrig, was sie einem anderen hätte geben können.
Ob Eli und Frankie Martine die letzten zweiundsiebzig Stunden zusammen verbracht hatten?
Shelby saß am Informationstisch, die Hände über der Computertastatur, als hätte ein Kunde sie nach einem Buch zu einem bestimmten Thema gefragt. Sie fand auf alles eine Antwort. Sie hatte bloß Angst, selbst Fragen zu stellen.
Aber es war Abendessenszeit, und der letzte Besucher hatte die Bücherei bereits vor zwei Stunden verlassen. Shelby musste noch bis sieben Uhr ausharren, obwohl ihrer Erfahrung nach jetzt niemand mehr kommen würde. Mit einem Seufzer legte sie den Kopf auf den Schreibtisch. Sie könnte ewig hier sitzen bleiben, und weder Eli noch Watson würde hereinkommen.
Als plötzlich die Glocke über der Eingangstür klingelte, fuhr Shelby in einem letzten Anflug von Hoffnung hoch. »Ach, du bist es«, sagte sie, als Lottie von der Stadtverwaltung mit einem großen, verstaubten Karton hereinschwankte.
»Na, das nenn ich eine freundliche Begrüßung!«, schnaubte Lottie und wischte sich die schmutzigen Hände an ihrem Rock ab.
»Tut mir leid … ich hatte bloß jemand anderen erwartet.«
»Diesen hinreißenden Cop?« Lottie grinste. »So was Köstliches und Kalorienfreies ist mir schon lange nicht mehr unter die Augen gekommen.«
Lachend half Shelby ihr, den Karton auf den Schreibtisch zu hieven. »Glaub mir, er ist trotzdem Gift für deinen Blutdruck. Was schleppst du denn da an?«
»Wir haben gestern einen neuen Heizkessel bekommen – und ich hab im Keller an die dreißig Kisten Akten gefunden, von deren Existenz kein Mensch was wusste … du kannst dir vorstellen, wie alt der Heizkessel war. Jedenfalls, da du nach irgendwas aus den Dreißigerjahren suchst, hab ich dir den Karton mit Unterlagen aus der Zeit mitgebracht. Vielleicht hast du ja Lust, sie mit deinem Detective zusammen durchzusehen.« Sie hob eine Augenbraue. »So was ist abendfüllend.«
Shelby öffnete den Deckel des Kartons und musste husten, als Staub aufflog. Drinnen waren Dutzende von Papierrollen. »Blaupausen?« Sie nahm eine heraus, entrollte sie und beschwerte die Enden mit Kriminalromanen.
Offenbar wurden die Verbindungen von Alkoholikern und Krüppeln und Sexualstraftätern und unehelichen Kindern und Straftätern schematisiert dargestellt. Shelby sah sich einige der Symbole genauer an. In Anstalt für Schwachsinnige. Schwachsinnig. Verdacht auf Schwachsinn. Die Darstellung erweckte den Anschein, als würden sich all diese gesellschaftlichen Übel mit nachfolgenden Generationen weiter ausbreiten und als wären sie mit den beiden Unglücklichen in der Mitte verwurzelt, die geheiratet und sich fortgepflanzt hatten. Auf einem zweiten Schaubild, einem Säulendiagramm, war die Familie nach »sozialen« und »unsozialen« Personen angeordnet. In der Erklärung hieß es: Soziaclass="underline" wünschenswerte Bürger – gesetzestreu, wirtschaftlich unabhängig und sozial engagiert. Unsoziaclass="underline" Personen, die zwar keine der genannten Defekte erkennen lassen, aber offenbar keinerlei gesellschaftlich wünschenswerte Neigungen zeigen, sowie Personen, über die zu wenig bekannt ist, um eine Einschätzung abzugeben.