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Diese Entdeckung war ein Brandsatz.

Plötzlich fiel Eli wieder ein, wie er als kleiner Junge mit seiner Mutter bei der Schulanmeldung in der Schlange vor dem Sekretariat gestanden hatte. Seine Mutter hielt ihn an der Hand, wie alle anderen Mütter ihre Kinder, doch als sie fast an der Reihe waren, gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und sagte, sie würde draußen auf ihn warten. Er erinnerte sich an ihre rätselhafte Bemerkung, als er hinterher wieder zu ihr lief: »So wie du aussiehst, nehmen sie dich.«

Die Abenaki hatten die Zeit nicht vergessen, als man sie fälschlicherweise Zigeuner nannte. Sie erinnerten sich nur allzu gut daran.

Eli beugte sich über eine weitere Ahnentafel. »Was, wenn Pike es nicht gewusst hat? Was, wenn seine geliebte Frau … ein Baby zur Welt brachte, dessen Haut eine Spur zu dunkel war?«

»Und wenn sie Zeit mit Gray Wolf verbracht hatte, weil sie herausgefunden hatte, dass er ihr leiblicher Vater war …«, warf Ross ein.

»Und Pike hat fälschlicherweise angenommen, das Baby wäre von Gray Wolf.«

Für einen Mann, der so viel Mühe darauf verwandt hatte, die genetische Minderwertigkeit der Abenaki nachzuweisen, musste das ein Schock gewesen sein. Es erklärte, warum Pike das tot geborene Kind vielleicht begraben hatte, bevor die Polizei das Gesicht der Kleinen sehen konnte. Und es erklärte möglicherweise auch, warum er seine Frau getötet hatte.

»Was ist aus dem Projekt geworden? Warum wurde es eingestellt?«, fragte Ross.

Shelby begann, die Dokumente wieder einzupacken. »Weil kein Geld mehr da war«, antwortete sie. »Und dann kam Hitler. Für das Nazi-Gesetz zur Verhütung ›erbkranken Nachwuchses‹ stand das amerikanische Sterilisationsgesetz Pate.«

»Und wann wurde das Gesetz in Vermont aufgehoben?«

»Jetzt haltet euch fest«, sagte Shelby. »Gar nicht, jedenfalls nicht ganz. Die Bürgerrechtsorganisationen haben es in den Siebzigerjahren angefochten … mit dem Ergebnis, dass es umformuliert wurde … aber Tatsache ist, es gibt noch heute ein Sterilisationsgesetz.«

Plötzlich sprang Eli ein Name ins Auge. Pial Sommers, verheiratet mit Isobel DuChamps, die als schwachsinnig eingestuft worden war. Ihre Kinder: Winona, Ella und Sopi, die mit sieben Jahren gestorben war. Ella Sommers hatte einen Mann geheiratet, den sie kennengelernt hatte, als sie Kellnerin in Burlington war. Er hieß Robert Rochert, und er war Elis Vater gewesen.

Pial Sommers hatte sechs Geschwister gehabt, und er war der Einzige gewesen, der laut dieser Tafel weder geisteskrank noch kriminell, noch pervers gewesen war. Eine kurze gepunktete Linie trennte ihn von der mütterlichen Seite der Familie und zehn Cousins und Cousinen, von denen der jüngste John »Gray Wolf« Delacour hieß.

Als Eli Shelbys Haus und diese neue geballte Ladung von Albträumen verließ, war es nach drei Uhr morgens. Als es um halb sieben an seiner Tür klingelte, zog er sich zunächst ein Kissen über den Kopf, um sich dann doch in seinen Boxershorts aus dem Bett zu quälen.

Frankie stürmte in die Wohnung, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte sie und steuerte schnurstracks in die Küche, wo sie mit einem vorwurfsvollen Blick die leere Kaffeekanne hochhielt. »Ich habe den Fleck am Nachthemd für dich getestet.«

»Frankie …«

»Das Zeug, das du für Blut gehalten hast.«

»Ich weiß.«

»Tja, es war keins. Bewahrst du deinen Kaffee nicht in der Tiefkühltruhe auf wie der Rest der modernen Menschheit?« Sie drehte sich um, die Kaffeekanne noch immer in der Hand. »Du bist ja fast nackt, Mensch.«

»Ich trage eine Unterhose, wie du siehst.«

»Du hättest dir ruhig einen Bademantel überziehen können.«

»Frankie«, sagte Eli seufzend. »Ich habe höchstens drei Stunden geschlafen.«

Sie fand den Kaffee auf dem Kühlschrank und füllte ein paar Löffel in den Filter. »Es ist Mekonium.«

»Und was ist das bitte schön? Was Radioaktives?«

»Es ist Kot. Kindspech.«

»Na und? Wir wissen doch, dass die Frau in der Nacht entbunden hat.«

Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln. »Du hast gesagt, die Frau hat ein totes Baby geboren. Tote Babys scheiden kein Kindspech aus.«

Der letzte Satz bahnte sich einen Weg zu Elis Verstand und riss ihn aus seinem Nebel. »Moment mal …«

»Guten Morgen«, sagte Frankie. »Das Baby hat gelebt.«

Heute war Bingo-Tag, und obwohl Eli nicht vorhatte zu spielen, hatte ein wohlmeinender Mitarbeiter des Pflegeheims eine Karte vor ihn hingelegt. »B-11«, sagte die Spielleiterin, eine kräftige Frau in einem Overall. »B-11!«

Er sah Spencer Pike, bevor der alte Mann ihn sah, und sprach den Pfleger an, der den Rollstuhl schob. »Ich mach das schon«, sagte Eli, packte die Griffe und manövrierte den Stuhl in eine Ecke, weg von den krächzenden Lautsprechern der Bingo-Spielleiterin.

Plötzlich und unerwartet wurde Eli von einer Hasswelle erfasst. Das war der Mann, der seine Familie hatte auslöschen wollen. Das war der Mann, der sich die Entscheidung angemaßt hatte, welches Leben lebenswert war. Das war der Mann, der Gott gespielt hatte.

»Gehen Sie«, sagte Spencer Pike mit Nachdruck.

Eli fasste Pikes Schultern und drückte sie gegen die Rückenlehne. »Sie haben mich belogen, Spencer.«

»Ich weiß nicht mal, wer Sie sind.«

»Reden Sie keinen Quatsch. Ihr Verstand funktioniert noch ausgezeichnet. Ich wette, Sie können sich noch an alles erinnern, was Sie in Ihrem Leben gemacht haben. Ich wette, Sie können sich sogar an ihre Namen erinnern.«

»Wessen Namen?«

»O-75«, zwitscherte die Spielleiterin. »Sagt jemand Bingo?«

»Sie haben sich für verdammt schlau gehalten, als Sie den Cops erzählt haben, Sie hätten die Leiche Ihrer Frau gerade erst abgeschnitten. Aber Sie hatten das schon Stunden vorher getan, lange vor Ihrem Anruf bei der Polizei.«

Eine Ader pochte an der Schläfe des alten Mannes. »Das ist lächerlich.«

»Ach ja? Schon mal was von Forensik gehört, Spencer? Wissen Sie, wie viel uns ein toter Körper heutzutage erzählen kann? Zum Beispiel wann und wie ein Mensch getötet wurde und wer so blöd war, Spuren zu hinterlassen.«

Spencer versuchte vergeblich, ihn wegzustoßen. »Lassen Sie mich in Frieden.«

»Wen haben Sie zuerst getötet, Spencer? Das Baby oder Ihre Frau?«

»Pfleger!«

»Es hat Sie bestimmt verrückt gemacht zu merken, dass Sie so eine geheiratet hatten. Dass sogar Ihre Tochter so eine war.«

Pike war weiß im Gesicht geworden. »Eine was?«

»Eine Zigeunerin«, erwiderte Eli.

Fast im selben Moment hievte Pike sich mit Mühe halb aus dem Rollstuhl. Seine Haut wurde dunkel, und er starrte Eli mit glasigen Augen an. »Sie … Sie …«, keuchte er und tastete nach den Armlehnen, griff aber daneben und kippte auf den Boden. Sofort kamen zwei Pfleger auf sie zugelaufen. Eli beugte sich tief zu Pike hinunter. »Was ist das für ein Gefühl, sich nicht wehren zu können?«, flüsterte er.

Eli stand blinzelnd neben seinem Chef, der in die Kameras lächelte. Eli achtete jedoch kaum auf das eigentliche Ereignis – wie Chief Follensbee Az Thompson den Gerichtsbeschluss überreichte, der jedes Bauvorhaben auf dem Pike-Grundstück stoppte, bis sämtliche Abenaki-Gebeine umgebettet waren. Stattdessen suchte Eli die Gesichter der versammelten Menschen ab – Menschen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte und die für ihn plötzlich ganz anders aussahen.

Winks zum Beispiel hatte ein Alkoholproblem, und seine Frau hatte ihn verlassen. Doch heute strahlte er übers ganze Gesicht. Der alte Charlie Rope hatte sich diesen Augenblick auch nicht entgehen lassen wollen und hatte seine kleine Enkelin mitgebracht. Sie saß auf seinen Schultern, und Eli hörte den alten Mann zu ihr sagen: »Pass genau auf. An das hier müssen wir uns immer erinnern.«