Sogar der stoische Az Thompson, der inoffizielle Abenaki-Sprecher, war sichtlich bewegt. Das hier war ein Sieg, und davon hatte es nur wenige gegeben. Jedes Mal, wenn die Abenaki Land kaufen oder das Recht zum Fischen erwerben wollten, waren sie daran gescheitert, dass sie kein vom Staat anerkannter Stamm waren und daher keine nennenswerten Rechte besaßen. Die Indianerbehörde schrieb vor, dass eine Gruppe von Ureinwohnern nur dann als Stamm gelten könne, wenn sie eine jahrhundertealte Kulturgeschichte nachweisen konnte.
Bei den Abenaki klaffte seit den Dreißigerjahren ein Loch.
Eli hatte immer den Grund darin vermutet, dass es den Abenaki an Struktur oder Elan oder beidem fehlte. Doch jetzt fragte er sich, ob sie sich nicht selbst in eine verhängnisvolle Zwickmühle gebracht hatten. Wie Shelby am Abend zuvor erklärt hatte, waren die Abenaki, um nicht ins Visier der Eugeniker zu geraten, Mischehen eingegangen, hatten die Namen von Weißen angenommen und in typisch weißen Berufen gearbeitet. Einige hatten Vermont verlassen und sich anderen Stämmen angeschlossen. Sie hatten ihre eigenen Traditionen hinter verschlossenen Türen versteckt, um sie nicht ganz zu verlieren. Und jetzt wurden sie dafür bestraft.
Eli sah, wie einige Abenaki zu der großen Trommel gingen, die sie mitgebracht hatten. Ihre Stimmen, tief und eindringlich, verschmolzen zu einer erstaunlichen Melodie. Indiandergesänge folgten keinem vorgegebenen Verlauf. Sie waren eher wie Flüsse, die sich selbst ihren Weg suchten. Eli konnte sich noch erinnern, wie diese Musik abends ins Zelt drang und ihn in den Schlaf trug, wenn er als Kind den Sommer bei der Familie seiner Mutter am Ufer des Sees verbracht hatte.
Dieser Gesang war ihre Geschichte. Mündlich überliefert wie alle Abenaki-Erinnerungen. Eli fragte sich, wie viele von diesen Männern und Frauen sich wohl daran erinnern konnten, was in Comtosook unter der Regie von Spencer Pike geschehen war. Allein die Tatsache, dass so auffällig geschwiegen worden war, war aufschlussreich – aus irgendeinem Grund war es nicht überliefert worden. Diese Geschichte, so wurde Eli jetzt klar, war umso bedeutender, weil man den Mantel des Schweigens darübergebreitet hatte. Er schob die Hände in die Taschen und ging auf die Gruppe singender Abenaki zu. Worte stiegen in ihm auf, von denen er geglaubt hatte, er hätte sie längst vergessen.
Die Veränderungen geschahen ganz allmählich, doch weil die Menschen in Comtosook sie diesmal erwartet hatten, nahmen sie sie wahr. Wenn Klebeband nicht haftete, lächelten sie wissend. Als die Melonen in Abes Laden so reif wurden, dass es bis draußen auf der Straße nach Sommer roch, wunderte sich niemand. Die Menschen fanden vierblättrige Kleeblätter in ihren Brieftaschen zwischen den größten Scheinen. Sie hörten Rotluchse in den Bergen schluchzen. Sie fanden ihre Kopfkissen in der Nacht zu weich – alles Dinge, die die unterschiedlichsten Gründe gehabt haben könnten, die sie aber ihrem Geist zuschrieben.
Und so kam es, dass Ross, als er auf Shelbys Veranda trat, sofort das Besondere spürte. Das, was er da sah, hätte das Zufallswerk von Eichhörnchen sein können oder eine Spielerei von Kindern aus der Nachbarschaft. Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes gewesen, das da fein säuberlich siebzehn kleine Steine in Form eines Herzens arrangiert hatte.
Das da war nie und nimmer seine Mutter. Ethan saß auf dem Bett und beobachtete diese Frau, die sich für ihre Verabredung fein machte, vor sich hin summte, während sie ihre besten Ohrringe anlegte, sich etwas auf die Wimpern schmierte und Parfüm auf die seltsamsten Stellen tupfte – in die Kniekehlen, in den Bauchnabel.
»Wollt ihr beide in die Kiste?«, fragte Ethan.
»In die Kiste?«
»Na, du weißt schon. Sex und so.«
Seine Mutter, die gerade in einen hochhackigen Schuh schlüpfen wollte, geriet aus dem Gleichgewicht. »Was ist das denn für eine Frage?«
Er überlegte kurz. »Eine clevere.«
»Tja«, sagte sie. »Ich weiß noch nicht.«
Ethan zupfte an einem Faden der Bettdecke. »An deiner Stelle würd ich’s machen. Aber nur, wenn er dich mal mit seiner Knarre schießen lässt.«
Seine Mutter bekam diesen Blick, den sie immer bekam, wenn sie mit Mühe versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich sag ihm, was du als Bedingung vorgeschlagen hast.«
Ethan überlegte, was er über Sex wusste – es kam ihm alles so ekelig vor. »Aber ich glaub eigentlich nicht, dass es sich lohnt.«
Sie zog ihm die Mütze nach hinten. »Darüber reden wir noch mal, wenn du älter bist.«
»Ich werde nie ein Mädchen küssen.« Ethan sah, wie sie sich prüfend im Spiegel betrachtete. Er musste zugeben, dass sie hübsch aussah. Und irgendwas daran gab ihm das Gefühl, als würde das Zimmer sich drehen.
»Glaub mir … es kommt, wie es kommt. Irgendwann wirst du dir das mehr wünschen als alles andere auf der Welt.«
»Und wer«, fragte Ethan, »wird mich küssen wollen?«
Seine Mutter hielt inne, setzte sich dann neben ihn aufs Bett. Sie berührte sein Gesicht, als wäre es das Schönste, was sie je gesehen hatte, und nicht die kreidebleiche Maske eines Monsters. »Viele, viele kluge Frauen«, antwortete sie und sah ihm dabei in die Augen.
»Gar nicht«, entgegnete Ethan und drehte sich weg, obwohl er eigentlich meinte: Ich hoffe, ich erlebe es noch.
Sie schloss ihn in die Arme, und aus irgendeinem Grund ließ er es zu, obwohl er das Geschmuse schon seit einem Jahr nicht mehr wollte. In ihren Augen leuchtete eine Welt, die Ethan nicht mit einschloss. Und weil es früher oder später ohnehin so sein würde, fand er die Kraft, sie gehen zu lassen.
Manchmal zahlte es sich doch aus, bei der Polizei zu sein. So wie heute Nacht. Eli hatte Shelby zu ihrer ersten Verabredung etwas Besonderes bieten wollen – eine Einladung zum Essen um zwei Uhr morgens, wenn alles schon zuhatte. Er schloss die Tür des italienischen Restaurants auf und hielt sie offen, damit Shelby eintreten konnte. Sie roch Oregano und Knoblauch aus der Küche. »Verdienen Sie sich als Koch was dazu?«
»Nein … ich kenne bloß die richtigen Leute.« Er führte Shelby zu einem gedeckten Tisch. Eine Flasche Rotwein stand neben einer einzigen Kerze. Quer über einem Teller lag eine Rose.
Eddie Montero hatte Eli vor einem Monat um Hilfe gebeten, weil er eine Mitarbeiterin verdächtigte, in die Kasse zu greifen. Ein paar Überwachungskameras hatten die Täterin überführt, und Eddie war gern bereit gewesen, Eli sein Restaurant nach Geschäftsschluss zur Verfügung zu stellen, und er hatte sogar für ihn das Essen zubereitet, das jetzt warm gestellt auf sie wartete.
»Wirklich«, sagte Shelby, als er sie zu ihrem Stuhl geleitete, »ich hätte auch zur normalen Geschäftszeit gekonnt.«
»Aber dann wäre ich nicht der einzige Mann, der Sie anschaut.« In Pumps und einem engen schwarzen Kleid sah Shelby Wakeman ganz und gar nicht aus wie die graue Maus, als die sie sich in der Bibliothek gab, und auch nicht wie die erschöpfte Mutter, die sie in Wahrheit war. Sie hatte sich die Haare hochgesteckt, was ihre Augen noch leuchtender und ihren Mund noch weicher machte. Eli hatte sich schon vorher von ihr angezogen gefühlt, jetzt aber war er rettungslos verloren.
Er servierte den Salat und die Antipasti und schenkte den Wein ein. »Eddie hat den Tropfen ausgewählt«, sagte Eli und stieß mit Shelby an, lauschte dem hellen Klang nach. »Auf alle ersten Rendezvous«, sagte er.
Shelby schüttelte den Kopf. »Darauf kann ich nicht trinken.«
Eli war enttäuscht. »Nein?«
»Nein. Ich hab darüber nachgedacht, und ich möchte kein erstes Rendezvous. Die sind doch immer furchtbar, oder?«
Eli brauchte eine Sekunde. »Und was soll das hier dann sein?«
Shelby lächelte. »Unser zweites Rendezvous.«
»Das würde aber doch bedeuten, dass wir das erste schon hinter uns haben?«