Der alte Mann blickte hinauf zu dem gelben Auge des Mondes. »Dort, wo ich gelebt habe, ging alle paar Jahre das Gerücht, dass irgendwer ihn gesehen hatte. In der Warteschlange in der Bank oder hinten im Bus oder beim Blackjack in einem Casino.«
»Wie Elvis.« Ross lächelte. Er hätte es sich denken können. Die Wirklichkeit wurde manchmal zur Legende, aber umgekehrt funktionierte es nie. »Na ja, ist wahrscheinlich sowieso egal. Der Mann muss ja längst tot sein.«
»Ich bin hundertzwei«, sagte Az leise, »aber wer zählt da noch mit.«
ZEHN
»Ich hab sie getötet.« Az presste sich den kleinen Wattebausch auf die Stelle am Arm, an der ihm gerade Blut abgenommen worden war, und sah dem Detective, der ihm im Verhörraum gegenübersaß, ruhig in die Augen.
Eli verzog keine Miene. »Die Beweise deuten aber nicht darauf hin.«
»Soweit ich weiß, gibt es noch einen Haftbefehl gegen mich.«
Nachdem er gestanden hatte, wer er war, hatte Az sich bereiterklärt, mit Ross zur Polizei zu gehen. Ross hatte fast damit gerechnet, dass Az sich wieder aus dem Staub machen würde, doch er hatte vor dem Revier auf Ross gewartet. Er hatte sich bereitwillig die Fingerabdrücke abnehmen lassen, und selbst Ross waren die markanten Bögen aufgefallen, genau wie auf Gray Wolfs Fingerabdruckkarte aus dem Gefängnis. Und als Eli sicherheitshalber auch noch eine Blutprobe von Az für die DNA-Analyse haben wollte, hatte der alte Mann darauf bestanden, das auf der Stelle zu erledigen.
Aber wieso gestand er nach siebzig Jahren?
»Ich hab sie getötet«, wiederholte Az. »Ich hab einer jungen Frau, die wie eine Prinzessin aufgewachsen war, eröffnet, dass in ihren Adern nicht nur blaues Blut fließt. Es spielt keine Rolle, ob ich ihr die Schlinge um den Hals gelegt habe, ob ich in der Nacht überhaupt dort war. Sie wäre nicht gestorben, wenn ich ihr nicht gesagt hätte, dass sie meine Tochter ist.«
»Sie haben doch bestimmt gewusst, dass die Wahrheit für sie nicht leicht zu verkraften sein konnte«, sagte Eli.
»Ich habe nicht daran gedacht, was für Entscheidungen sich daraus für sie ergeben würden. Ich wollte sie bloß kennenlernen, weil sie das Einzige war, was ich in dieser Welt zurücklassen würde. Leider ist es nicht so gekommen.«
»Haben Sie es auch Pike gesagt?«
»Nein.«
»Glauben Sie, Lia hat es ihm gesagt?«
»Ich glaube, sie hat sich nicht getraut«, sagte Az. »Er hatte sie in der Woche davor eingesperrt. Sie war selbstmordgefährdet – und er sagte, er wollte sie im Auge behalten, damit sie sich nichts antut. Für Spencer Pike kam es einer Selbstzerstörung gleich, öffentlich zu verkünden, dass man ein Zigeuner war.«
»Wieso haben Sie sie nicht da rausgeholt?«, sagte Ross vorwurfsvoll. »Sie hätten sie retten können.«
»Ihr Mann hat mich zusammengeschlagen und aus dem Haus geworfen. Als ich zurückkam, um sie zu holen, war sie schon tot, und die Polizei war da … und Spencer Pike hatte den Cops erzählt, ich wäre der Mörder. Dass ich schon so lange lebe, das ist meine Strafe. Ich habe sie kennengelernt und musste dann den Rest meines langen Lebens ohne sie verbringen.«
Ross starrte vor sich hin, verblüfft, dass Az den gleichen Schmerz beschrieb, den auch er empfand.
Eli schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch, wie Sie hierhergezogen sind, Az. Da war ich noch ein Kind. Sie sind zurück nach Comtosook gekommen, obwohl Sie wussten, dass Sie für eine Tat verhaftet werden könnten, die Sie nicht begangen hatten?«
»Ich bin zurückgekommen, weil ich es einem Menschen versprochen hatte, den ich geliebt habe.«
Er bewegte sich durch die Flure des Pflegeheims wie der Geist, der er schon fast war, las die Namen an den Türen, bis er fand, was er suchte.
Spencer Pike lag zusammengekrümmt unter der Bettdecke, das Gesicht so weiß wie der Bauch eines Wals, der Infusionsschlauch an eine patientengesteuerte Schmerzmittelpumpe angeschlossen. Sein Daumen drückte fest auf den Rufknopf, und sein Atem kam in kleinen, flachen Stößen. »Ich brauch mehr Morphium!«
Die Antwort klang blechern, entfernt. »Tut mir leid, Mr. Pike. Ich darf Ihnen nichts mehr geben.«
Mit einem qualvollen Stöhnen warf er das Steuergerät für die Pumpe auf den Boden. Er lag auf der Seite, die Gesichtszüge schmerzverzerrt. Selbst als der andere Mann aus dem Schatten nähertrat, dauerte es einige Sekunden, bis Pike das Gesicht klar sehen konnte. Er zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Erkennen. »Wer sind Sie?«, keuchte er.
Darauf gab es keine eindeutige Antwort. Er war in seinem Leben so viele verschiedene Personen gewesen: John Delacour, Gray Wolf, Az Thompson. Man hatte ihn Indianer genannt, Zigeuner, Mörder, ein Wunder. Doch die einzige Identität, die er sich je wirklich gewünscht hatte, war ihm verwehrt worden – Lilys Mann, Lias Vater.
Vielleicht phantasierte Spencer Pike von den Schmerzmitteln, oder er lag im Delirium; vielleicht sah er Mut in Az’ Augen und verwechselte ihn mit Verständnis. Jedenfalls griff er über die wenigen Zentimeter äußeren Abstands und die Meilen innerer Distanz hinweg nach Az’ Hand und hielt sie fest. »Bitte«, flehte er. »Helfen Sie mir.«
Es erschütterte Az zutiefst, dass er und Spencer Pike doch etwas gemeinsam hatten: Sie würden allein sterben, und ihre Trauer würde mit ihnen sterben. Er blickte auf den gebrochenen Mann vor sich, der so viele Leben zerstört hatte. »Helfen Sie mir zu sterben«, hauchte Pike.
Es wäre ganz einfach. Er könnte ihm ein Kopfkissen sekundenlang aufs Gesicht drücken. Eine Hand auf den ausgedörrten, verbitterten Mund pressen. Niemand würde es erfahren, und Az hätte seine biblische Gerechtigkeit: ein Leben für ein Leben.
Aber genau das wollte Pike. »Nein», sagte Az und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzublicken.
Die Polizei von Comtosook hatte sechs Hilfskräfte angeheuert, die die Medien von der Exhumierung fernhielten. Um die offenen Gräber herum standen Wesley Sneap, Eli, Az mit einigen wenigen Abenaki und Ross. Aus der Erde stieg der süßliche Geruch der Zeit.
Da sollte ich liegen, dachte Ross, und im selben Moment sprach Az dieselben Worte laut aus. Die Hände des alten Mannes bebten, als er sie über die Särge hob. »Wohin bringt ihr sie?«, fragte Ross ihn.
»Auf einen Berg, einen heiligen Ort«, erwiderte der alte Mann. »Abenaki werden mit dem Gesicht nach Osten hin bestattet.« Er blickte auf. »Dann kann sie sehen, was kommt.«
Ross versuchte, an dem Kloß in seinem Hals vorbeizuschlucken. »Sagen … sagen Sie mir, wo ihr Grab ist?«
»Das kann ich nicht. Sie sind kein Abenaki.«
Ross hatte diese Antwort erwartet, trotzdem schossen ihm Tränen in die Augen. Er nickte, trat verlegen gegen ein Stöckchen auf dem Boden. Plötzlich spürte er, wie etwas in seine Hand geschoben wurde. Ein Briefumschlag.
Darin war ein verblasster Ausschnitt aus der Burlington Free Press, die Todesanzeige von Cecelia Beaumont Pike. Daneben war ein Foto abgedruckt. Sie lächelte schwach, als hätte der Fotograf gerade eine witzige Bemerkung gemacht, die sie nicht lustig fand, aber aus Höflichkeit wenigstens mit einem Lächeln quittieren wollte. »Behalten Sie das«, sagte Az.
»Das kann ich unmöglich annehmen.«
»Sie würde es so wollen.« Az legte den Kopf schief. »Sie hat mir gesagt, dass sie von Ihnen geträumt hat, wissen Sie.«
»Sie … hat was?«
»Von einem Mann, der so aussah wie Sie. Der irgendwelchen technischen Krimskrams hatte, mit dem sie nichts anfangen konnte. Sie sind zu ihr gekommen, wenn sie schlief.« Az zuckte die Achseln. »So ungewöhnlich ist das gar nicht. Man kann jahrelang von jemandem verfolgt werden, den man nie kennengelernt hat.«