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Sie dachte nicht an Ethan oder an ihre Arbeit oder an ihren Bruder. Und sie wunderte sich auch nicht darüber, warum Eli sich plötzlich ebenso brennend für den nur beinahe gestorbenen Jungen interessierte wie sie. Shelby wusste nur, dass man nicht zögern soll, wenn man die Chance bekommt, ein Wunder zu erfahren.

Eli bog vom Highway in die Zufahrt zu einem Motel. Sie hatten es in Rekordzeit nach Kanada geschafft, trotzdem war es schon kurz vor acht – was bedeutete, dass Eli erst am nächsten Tag mit Dr. Holessandro würde sprechen können. »Es ist nicht gerade das Ritz«, entschuldigte Eli sich. »Aber das Ritz erlaubt keine Hunde.«

»Ich hoffe, du sprichst von Watson.«

An der Motel-Rezeption spielte ein Junge mit grünem Irokesenschnitt Scrabble gegen sich selbst. »Sprichst du Französisch?«, fragte Shelby Eli.

»Kein Problem.« Eli trat näher, doch der Junge blickte nicht einmal hoch. »Hallo.« Er verdrehte die Augen. »Bonjour.«

»Bonjour», sagte der Junge und grinste Eli und Shelby vielsagend an – offenbar weil sie kein Gepäck hatten. »Vous désirez une chambre?«

Shelby öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Eli bremste sie. »Ich mach das schon«, sagte er. »Non, deux chambres, s’il vous plaît.«

Der Junge blickte Shelby an und dann wieder Eli. »Deux? Vous êtes sûr?«

»Oui«, sagte Eli.

Der Junge hob eine Augenbraue. »Et Madame? Elle est sûre aussi?«

»Bon, d’accord. Avez-vous des chambres ou non?«

»Oui, oui … ne vous fâchez pas. D’abord, j’ai besoin d’une carte de crédit …« Eli klatschte seine MasterCard auf die Theke. »Voilà les clefs pour les chambres 40 et 42.«

»Merci.«

»Ou préférez-vous plus de distance entre les chambres?«

»Non, ça va comme ça.« Eli fasste Shelby am Arm und zog sie zur Eingangstür. »Bonne nuit, alors …«, rief der Junge ihnen lachend nach.

Draußen marschierte Eli eilig Richtung Pick-up.

»Ich hol den Hund. Ich möchte ihn nicht im Auto lassen.«

»Eli!« Shelby stemmte die Hände in die Hüften. »Verdammt, jetzt hör mir doch mal zu!«

Er drehte sich langsam um. »Was ist denn?«

»Ich hab dich vorhin gefragt, ob du Französisch kannst, weil ich es auch kann, und ich hätte auch einchecken können. Hätten Sie lieber Zimmer, die weiter auseinanderliegen?«, äffte sie den Jungen von der Rezeption nach.

Eli wäre am liebsten im Erdboden versunken. »Shelby, es ist nicht so, wie du denkst …«

»Du hast keine Ahnung, was ich denke«, konterte sie und fügte dann leise hinzu: »Ich habe gedacht, der Bursche hatte recht. Du hättest ein Zimmer nehmen können.«

Eli trat einen Schritt vor, bis er dicht vor Shelby stand. »Nein, hätte ich nicht«, sagte er.

Er sah, wie das Leuchten in ihren Augen erlosch, und merkte, dass sie ihn missverstanden hatte. Er suchte nach den richtigen Worten. »Du kennst das vielleicht, man liest ein tolles Buch und dann hört man an einer schönen Stelle kurz auf zu lesen, weil man das Ganze verlängern will. Ich wünsche mir nichts mehr als dich … dich zu liebkosen. Aber das führt dann zu mehr … ziemlich schnell sogar. Die Phase, die ich im Augenblick erlebe – die wir erleben –, ist so ephemer. Und wenn sie vorüber ist, bekommen wir diese Empfindung nie wieder.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich will es nicht langsam angehen lassen, aber ich zwinge mich dazu.«

»Liebkosen? Ephemer?« Langsam breitete sich ein Lächeln auf Shelbys Gesicht aus. »Eli, was hast du denn für einen ausgefallenen Wortschatz?«

Er zwinkerte ihr zu. »Du bist nicht die Einzige, die ein Wörterbuch lesen kann.«

Das Krankenhaus strahlte eine falsche Heiterkeit aus. Als Lucy auf das Bett kletterte, bemühte sie sich angestrengt, kein Geräusch zu machen – nicht nur weil ihre Mom und ihre Urgroßmutter schliefen, sondern weil die knisternden Decken und Plastiklaken bereits voller Leute waren, die Lucy sehen konnte, auch wenn sie damit offenbar die Einzige war.

Sie fasste sie nicht gern an, mochte es nicht, wie deren Arme und Beine sich mitten durch sie hindurchbewegten und wie ihr davon innen drin ganz kalt wurde. Sie mochte es nicht, wie sie sie anstarrten, als wären sie neidisch darauf, dass sie in einen Raum gehen konnte und bemerkt wurde, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Lucy rollte sich also ganz klein zusammen und sah zu, wie ihre Urgroßmutter sich ausruhte.

Lucy spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, als ein Mädchen neben ihr mit langen schwarzen Zöpfen und einer lustig gestreiften Schürze sie mit einem langen Finger piekste. Sie sah aus wie um die sechzehn und wirkte kränklich, die Wangen fast blau. »Ma poule«, flüsterte das Mädchen.

Plötzlich schlug Granny Ruby die Augen auf. »Du bist da«, sagte sie und streckte eine Hand nach Lucy aus.

»Ich bin mit Mama gekommen.«

Ruby blickte sich hektisch um. »Mama? Ist sie auch hier?« Doch bevor Lucy antworten konnte berührte ihre Urgroßmutter sie an der Wange. »Simone«, sagte sie. »Du bist zurückgekommen.«

»Ich bin nicht Simone«, flüsterte Lucy, aber ihre Urgroßmutter hörte schon nicht mehr zu. Und das durchsichtige Mädchen mit den schwarzen Zöpfen streckte die Hände aus und schubste Lucy vom Bett.

Am 3. Januar 2002 war Alexandre Proux vor seiner Mutter Geneviève wach geworden. Er öffnete die Hintertür, an deren Klinke er seit einer Woche heranreichte, und trottete in seinem Spiderman-Pyjama über die Veranda hinweg. Es schneite, und er wollte im Schnee spielen gehen.

Als seine Mutter aufwachte und merkte, dass er weg war, war Alexandre schon unter dem Schnee begraben. Sechs Stunden lang suchte die Polizei die ganze Gegend ab, bis sie ihn fand.

Jetzt war Alex drei und versuchte gerade, dem kleinen Beagle, den er zu Weihnachten bekommen hatte, ein Halstuch umzubinden.

»Es gibt nichts Schlimmeres«, sagte Geneviève leise, »als zu sehen, wie das eigene Kind reglos daliegt. Ich hab ständig gedacht, Gleich wacht er auf. Er öffnet die Augen und schaut mich an, und alles ist wieder gut.«

Shelby verstand, was sie meinte.

»Sie haben auch einen Sohn?«

»Ethan. Er ist neun.«

»Dann wissen Sie ja, was ich meine.«

Alex kam angelaufen und warf sich seiner Mutter in die Arme. Sie küsste ihn hinters Ohr. »Ja«, sagte Shelby. »Absolut.«

Dr. Gaspar Holessandro hatte ein schlecht sitzendes Haarteil und eine Schwäche für Sardinen. »Verzeihen Sie«, sagte er und leckte sich die Finger ab, nachdem er eine weitere Sardine aus einer Tupperware-Dose gefischt hatte. »Normalerweise esse ich nicht, wenn ich Besuch habe.« Da er ein viel beschäftigter Mann war, hatte Dr. Holessandro sich bereiterklärt, mit Eli während der Mittagspause zu sprechen. Sein Büro war winzig klein und grenzte direkt an das Kliniklabor, in dem er drei Tage die Woche forschte. Die anderen vier Tage arbeitete er in der Klinik, in die der kleine Alexandre Proux steif und blau verfärbt und vermutlich tot eingeliefert worden war.

Eli hatte mal wieder die Wahrheit ein wenig verbogen. Er hatte sich Holessandro als Detective aus Vermont vorgestellt, der den Tod eines Babys untersuche, einen Fall, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem des kleinen Alex aufweise. Er wolle wissen, ob extreme Kälte paradoxerweise die Wiederbelebung begünstigen könnte, sodass ein Baby, das erstickt worden war, plötzlich wieder anfangen könnte zu atmen, nachdem es eine Zeit lang in einem Eishaus gelegen hatte. Er sagte dem Arzt nicht, dass die Sache sich 1932 zugetragen hatte.