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Holessandro biss den Schwanz einer Sardine ab. »Wenn ein Mensch erstickt«, sagte er, »kommt es zu Hypoxie, das heißt zu Sauerstoffmangel im Gewebe und in den Organen. Ein Erwachsener atmet dann immer heftiger – er hyperventiliert. Bei Kleinkindern dagegen, deren Körper sich physiologisch stark von dem eines Erwachsenen unterscheidet, blockiert die Hypoxie die Atmung. Es kann also sein, dass ein Baby, das erstickt wurde, einige Minuten aufhört zu atmen … und dann von allein wieder anfängt.«

»Sie meinen, es bleibt nicht tot?«

»Wenn man den Teil des Babyhirns stilllegt, der für die normale Atmung zuständig ist, übernimmt ein anderer Teil des Gehirns die Aufgabe. Das Baby schnappt dann ein paarmal nach Luft, damit es etwas Sauerstoff bekommt, um Herz und Lunge Starthilfe zu geben.« Er lächelte. »Es ist eigentlich recht schwer, ein Baby zu töten.«

»Aber derjenige, der das Baby erstickt hat, muss doch mitgekriegt haben, dass es kurz darauf nach Luft geschnappt hat.«

»Nicht, wenn er sich schnell genug aus dem Staub gemacht hat. Die Sache ist in einem Eishaus passiert, sagten Sie?«

Eli zuckte die Achseln. »Ja.«

Holessandro schüttelte den Kopf. »Und ich hab gedacht, hier in Kanada wäre die Zeit stehen geblieben. Wie dem auch sei, bei einem Eishaus kommt noch ein weiterer Aspekt dazu. Nehmen wir an, das Baby wurde erstickt … und hat dann nach Luft geschnappt … und wurde in eine kalte Umgebung gebracht. Dann würde das Gleiche passieren wie bei Alexandre. Die Haut würde abkühlen, was wiederum die Blutzirkulation abkühlen würde, was das Gehirn abkühlen würde, was zur Folge hat, dass der Hypothalamus den Stoffwechsel auf Grundumsatz senkt. Vielleicht noch niedriger – je jünger das Kind ist, desto stärker ist der Reflex, der die Körpersysteme auf diese Weise abschaltet.«

»Dann wirkt das Baby also tot, obwohl es gar nicht tot ist?«

»Ganz genau. Wie der Energiesparmodus beim Computer … der Bildschirm schaltet ab, aber die Daten bleiben erhalten. So ähnlich ist es in dem Fall mit dem Baby: Das Blut wird nur noch zu den lebenswichtigen Organen geleitet, die Haut wird blau und kalt. Keine sichtbare Atmung, kein spürbarer Puls. Wie bei Alex.«

»Wie lange könnte ein Baby so leben?«

»Es kann nicht so leben«, sagte Holessandro. »Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt es jedenfalls nicht oft vor. Aber die Biologie funktioniert nach anderen Regeln als die Physik, und wie der Fall Alex zeigt – manchmal eben doch.« Er steckte sich die letzte Sardine in den Mund. »Und, hat das Baby in Ihrem Fall gelebt?«

»Wir wissen es nicht genau.«

»Nun, falls es gelebt hat, muss irgendjemand oder irgendetwas es aufgewärmt haben. Nur so kann es aus dem Winterschlaf erwacht sein, um es mal so auszudrücken. Vor allem bei Neugeborenen ist das so – sie können nicht zittern, deshalb können sie sich nicht selbst aufwärmen.«

Wer hätte das Baby in der Nacht aufwärmen können? Da war zum einen Spencer Pike, der gestanden hatte, das Baby getötet zu haben. Wieso sollte er einen Mord gestehen, wenn er das Baby lebend irgendwohin gebracht hatte? Möglich war auch, dass Cecelia Pike ihr Kind in den Stunden vor ihrem Tod versteckt hatte. Vielleicht hatte ja sogar Az Thompson das Kind mitgenommen und wusste mehr, als er zugab.

Aber wenn das Baby am Leben geblieben war, was war dann aus der Kleinen geworden?

»Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen, ein paar Antworten zu finden«, sagte Holessandro.

»Auf jeden Fall«, erwiderte Eli. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass er noch nicht die richtige Frage gestellt hatte.

»Es kann losgehen«, sagte Ross, reichte Ethan eine Vase voll mit Popcorn und ließ sich neben ihm in den Liegestuhl fallen. Sie saßen um Mitternacht in der Einfahrt und schauten sich einen Thriller an, den Ross per Beamer auf die weißen Garagentüren projizierte.

»Was soll die Vase?«, fragte Ethan.

»Saubere Schüsseln waren alle.« Ross grinste, als der Vorspann begann. »Das ist doch wohl besser als jedes Autokino, oder?«

Ethan nickte. »Fehlt nur noch ein Mädchen.«

Sein Onkel hätte sich beinahe an einem Stück Popcorn verschluckt. »Meine Güte, Ethan. Bist du nicht noch ein bisschen jung, um schon an so was zu denken?«

»Kommt drauf an. Schließlich fangen die meisten Jungs mit vierzehn oder fünfzehn an, und dann bin ich schon tot.«

Ross richtete sich auf, sodass der Film über sein Gesicht lief, es verzerrte. »Ethan, das kannst du doch gar nicht wissen.«

»Dass Jungs mit vierzehn Sex haben?«, verstand Ethan ihn absichtlich falsch. »Wie alt warst du, als du das erste Mal Sex hattest?«

»Jedenfalls älter als neuneinhalb.«

»Und wie ist das?«

Ethan sah, dass sein Onkel nach den richtigen Worten suchte, aber er wusste, dass Ross ihm die Wahrheit sagen würde. Anders als seine Mutter wusste Onkel Ross, wie wichtig es war, möglichst viel zu erleben, bevor man sich aus dem Leben verabschiedete. »Es ist ziemlich verblüffend«, sagte Ross. »Ein Gefühl, als würde man nach Hause kommen.«

Das hatte Ethan nicht gerade erwartet. Er fragte sich, wie es wohl bei seiner Mutter und diesem Eli in Kanada war, bei dem sie immer rot wurde, wenn er vorbeikam. Sie hatte in letzter Zeit doch nur noch diesen Detective im Kopf.

Onkel Ross schien jetzt die richtige Erklärung eingefallen zu sein. »Ich glaube, wenn man mit jemandem schläft, nimmt man einen Teil von dem anderen mit, einen Teil von dem, was den anderen ausmacht.«

Jeder hatte jemanden, dachte Ethan. Jeder außer ihm. »Vielleicht könnte ich ja bloß mal ein Mädchen küssen, damit sie ab und zu mal an mich denkt. So, ach, das war doch der Junge, den ich mal geküsst habe und der krank war und gestorben ist

»Ethan, du wirst nicht …«

»Onkel Ross«, sagte er müde. »Fang du nicht auch noch an, mich zu belügen.«

Ethan griff nach der Hand seines Onkels. Er schob ihm den Ärmel hoch, bis die Narbe am Gelenk zum Vorschein kam. »Warum?«, fragte er sehr leise.

»Der Unterschied zwischen dir und mir ist folgender: Du bist ein Held, Ethan, und ich bin ein Feigling.« Ross zog die Hand weg und schob den Ärmel wieder nach unten. »Ich werde persönlich dafür sorgen, dass du ein Mädchen küsst, bevor du stirbst, und wenn ich eines engagieren muss«, sagte er, und er meinte es ernst, und das brachte Ethan fast zum Weinen.

Im Film prasselten Schüsse. Ethan wühlte mit den Fingern im Popcorn, das raschelte wie Herbstlaub. »Würdest du jetzt gern sterben?«, fragte er.

Ross schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ich auch nicht«, sagte Ethan und wandte sich wieder dem Film zu.

Eli hatte noch nie gut schlafen können, wenn ein Fall ihm zu schaffen machte. Jetzt kam noch eine kräftige Dosis sexuelle Frustration hinzu, und so war es nicht verwunderlich, dass er sich kurz nach Mitternacht auf dem Parkplatz vor dem Motel die Beine vertrat. Es hatte heftig geregnet. Watson lag auf der Erde, den Kopf auf den Pfoten, und beobachte Eli, der auf dem matschigen Boden auf und ab ging.

Shelby schlief. Zumindest glaubte er das. Sie hatte ihm einen so leidenschaftlichen Gutenachtkuss gegeben, dass er den Druck ihres Körpers noch Stunden später spüren konnte. Dann hatte sie ihm die Tür zu ihrem Zimmer vor der Nase zugemacht. Das sollte bestimmt eine Art Bestrafung sein, ein kleiner Vorgeschmack von dem, was ihm entging, weil er es ja nun mal langsam angehen lassen wollte.

Er fragte sich, was sie wohl nachts anhatte.

Wieso wollte er es überhaupt langsam angehen lassen? Sie hatte ihm doch klipp und klar gesagt, dass sie interessiert war. Vielleicht brauchte er ja nur an ihre Tür zu klopfen. Mit Shelby Wakeman zu schlafen, daran hatte Eli keinen Zweifel, war das Einzige, was ihn von dem Mordfall ablenken könnte.