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Nachdem Eli sich verabschiedet hatte und Ethan ins Bett gegangen war, verkroch Ross sich in seinem Zimmer. Shelby klopfte an die Tür, um ihm etwas zu essen zu bringen, aber er wollte nichts. Eine Stunde später klopfte sie erneut, um ein wenig mit ihm zu plaudern, doch er kam in Unterwäsche an die Tür und sagte, er wolle allein sein.

Sie tat es nur äußerst ungern, aber als sie kein Geräusch mehr aus seinem Zimmer hörte, schlich sie hinein, vergewisserte sich, dass ihr Bruder nur schlief, und versteckte seinen Rasierer.

Sie schlief unruhig und erwachte um neun Uhr morgens mit rasenden Kopfschmerzen. Jemand hatte das Radio zu laut gestellt.

Shelby stürmte zuerst in Ethans Zimmer, überzeugt, dass ihr Sohn der Übeltäter war. Doch er schlief tief und fest, zusammengerollt unter der Bettdecke. Shelby ging weiter zum Zimmer ihres Bruders und klopfte an die Tür. »Ross«, rief sie, »stell das Ding leiser!«

Doch die Musik plärrte weiter. Sie drückte die Tür auf, die nur angelehnt war. Der Lärm kam von einem Radiowecker.

Das Bett war gemacht, die Kommode leer geräumt, und Ross’ Reisetasche fehlte.

Auf dem Kopfkissen lag ein Zettel.

Shel, las sie, verzeih mir, dass ich einfach so verschwinde. Aber wenn ich je etwas richtig machen würde, wäre ich schließlich nicht der Bruder, den du kennst.

Ein Schrei ballte sich in ihr zusammen. Das war ein Abschiedsbrief.

Ross saß in seinem Wagen, blickte auf die schnurgerade Reihe Ahornbäume, lauschte den Vögeln und dachte, dass es keinen passenderen Ort als diesen geben könne, um alles zu einem Ende zu bringen. Er holte tief Luft, wissend, dass das, was er jetzt vorhatte, nicht nur sein Leben, sondern das vieler Menschen verändern würde. Aber er hatte keine andere Wahl.

Er war stundenlang herumgefahren, bis er eine Entscheidung getroffen und sich alles Notwendige besorgt hatte. Er könnte sagen, dass er es für Lia tat, aber das wäre nicht die Wahrheit. Ross tat es für sich selbst, um zu beweisen, dass es – endlich – etwas gab, das ihm gelang.

Er griff auf den Beifahrersitz, nahm den Zettel, auf den Ruby Webers Adresse gekritzelt war, und stieg aus dem Wagen.

Auf dem Briefkasten stand WEBER/OLIVER, und Ross fragte sich, ob diese Ruby Weber wohl mit jemandem zusammenlebte. Er ging über den gepflasterten Weg zur Haustür und klingelte.

»Es ist niemand da.«

Ross drehte sich um und sah eine Frau im Nachbargarten ihren Rasen sprengen. »Wissen Sie vielleicht, wann sie wiederkommen?«, fragte er. »Ich hab meinen Besuch nicht angekündigt …«

»Gehören Sie zur Familie?«

Ross dachte an Lia. »Ja.«

Die Nachbarin kam näher. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie mitfühlend, »aber Ruby liegt im Krankenhaus.«

Ross streifte durch die Flure der Krankenhausverwaltung, bis er zu einem Büro kam, in dem gerade keine Sekretärin saß und innen an der Tür ein Arztkittel hing. Als Mediziner verkleidet, ging er zielstrebig zum Schwesternzimmer in der kardiologischen Station und bat um Ruby Webers Krankenblatt.

Er studierte es kurz, prägte sich ihr Alter ein, den Befund und das Zimmer, auf dem sie lag. Doch als er dort ankam, sah er eine Frau bei Ruby auf der Bettkante sitzen.

Da er ungestört mit Ruby sprechen wollte, tat er auf dem Flur so, als wäre er mit einer Akte beschäftigt, bis die Frau aus dem Zimmer kam, an der Hand ein kleines Mädchen. Als die beiden ein Stück entfernt waren, huschte Ross ins Zimmer. »Mrs. Weber«, sagte er, »ich würde gern mit Ihnen reden.«

Sie hatte stahlgraues Haar und Augen so blau wie das Zentrum einer Flamme. Ihre Haut erinnerte Ross an Reispapier. »Na, das ist ja mal was Neues. Ihre Freunde haben immer nur an mir rumgepiekst und Blut abgezapft.«

Ross zog sich den Kittel aus und faltete ihn zusammen. »Das liegt daran, dass ich gar kein Arzt bin.«

Er sah ihr an, dass sie erwog, den Rufknopf zu drücken und ihn rauswerfen zu lassen … aber sie wollte hören, was er zu sagen hatte. Nach einem sehr langen Augenblick schob Ruby sich in eine sitzende Position. »Sind Sie Patient? Sie sehen aus, als hätten Sie Schmerzen.«

»Hab ich auch. Überall.« Ross trat näher. »Ich möchte mit Ihnen über das Jahr 1932 reden.«

»Ich wusste, dass es dazu kommen würde«, murmelte sie. »Der Herzinfarkt war eine Warnung.«

»Sie waren dabei. Sie wissen, was mit Lia passiert ist.«

Sie drehte den Kopf zur Seite, und Ross staunte über ihr edles Profil. Diese Frau, deren Vorfahren Spencer Pike in seinen Familiengenealogien als unzureichend klassifiziert hatte, hätte der Urtyp einer Königin sein können, der Kopf auf einer goldenen Münze. »Es gibt Dinge, über die sollte man nicht reden«, sagte Ruby.

Es war immerhin einen Versuch wert gewesen. Mit einem Seufzer nahm Ross den Kittel und ging zur Tür.

»Und es gibt Dinge, die hätten gar nicht erst verschwiegen werden sollen.« Sie blickte Ross an. »Wer will das wissen?«

Er überlegte, ihr von dem Bauprojekt zu erzählen, von dem Protest der Abenaki, von Elis Ermittlungen. Doch dann sagte er schlicht: »Ich.«

»Ich habe für Spencer Pike gearbeitet. Ich war vierzehn. Cissy Pike war erst achtzehn, wissen Sie – ihr Mann war acht Jahre älter als sie. In der Nacht damals hatten sie einen Streit, und plötzlich setzten ihre Wehen ein, drei Wochen zu früh. Das winzigste Baby, das man sich vorstellen kann. Als das Baby starb, ist Miz Pike ein wenig verrückt geworden. Ihr Mann hat sie in ihrem Zimmer eingesperrt, und ich hatte solche Angst, dass ich rasch ein paar Sachen eingepackt habe und weggelaufen bin.« Sie raffte die Bettdecke zwischen den Händen. »Später hab ich dann erfahren, dass sie in der Nacht ermordet worden war.«

»Haben Sie ihre Leiche gesehen?«, drängte Ross. »Haben Sie das tote Baby gesehen?«

Ruby öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als wollte sie ihre Worte neu formen. Farbe stieg ihr ins Gesicht, und einer der Monitore begann, schneller zu piepen.

Die Tür flog auf. »Granny? Was ist das für ein Geräusch? Ist alles in Ordnung?«

Ross drehte sich um, eine Erklärung auf den Lippen. Und plötzlich blickte er in das Gesicht von Lia Beaumont Pike.

ELF

»Wer sind denn Sie?«, fragte Lia oder wer immer sie war. Sie wartete allerdings nicht erst auf eine Antwort, sondern streckte den Kopf zur Tür hinaus und rief nach einer Krankenschwester. Gleich darauf war das Zimmer voller Schwestern und Ärzte, die sich vor dem Bett drängten und sich gegenseitig beruhigten, dass kein erneuter Herzstillstand drohe. Lia hörte sich die Fachsimpeleien an, während sie stocksteif dastand und gebannt auf den Monitor starrte, bis der wieder zu seinem normalen Rhythmus zurückfand. Erst dann entspannte sie sich ganz langsam.

Ross schlich unbemerkt auf den Flur. Es war nicht Lia. Das Haar dieser Frau mit dem kleinen Mädchen war länger und lockiger, eher honig- als weizenfarben. Aber die bemerkenswerten braunen Augen waren die gleichen und auch die Traurigkeit in ihnen.

Sie war zu jung, um Lia Pikes Tochter zu sein. Aber die verblüffende Ähnlichkeit mit Lia verriet, dass sie eine nahe Verwandte sein musste.

Als die Krankenschwestern und Ärzte sich wieder entfernten, spähte Ross ins Zimmer. »Er ist ein alter Bekannter«, hörte Ross noch, bevor die Tür zufiel.

Eines war klar: Ruby Weber war keine alte Bekannte von ihm.

Und sie hatte das Baby mitgenommen, als sie damals die Pikes verlassen hatte.

Shelby wusste bereits, dass man eine Person erst dann als vermisst melden konnte, wenn sie mindestens vierundzwanzig Stunden verschwunden war; jetzt erfuhr sie zusätzlich, dass Burlington fünf größere Ausfallstraßen hatte und dass man vom Flughafen nach Chicago, Pittsburgh, Philadelphia, New York, Boston, Cleveland oder Albany fliegen konnte.