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Und dass tagtäglich mehr als 2000 Menschen als vermisst gemeldet wurden.

Ihr Bruder war einer von ihnen.

Sie hatte seinen Zettel nicht mehr losgelassen, seit sie ihn fünf Stunden zuvor gefunden hatte. Die Innenseite ihrer Hand war inzwischen von der Tinte tätowiert, ein Tagebuch des Verlustes. Sie hatte Eli angerufen, und er war sofort gekommen und hatte versprochen, jeden Quadratmeter von Comtosook abzusuchen und die Kollegen in Burlington auf Ross anzusetzen. Aber Shelby wusste, dass Ross sich einfach in Luft auflösen würde, wenn er nicht gefunden werden wollte.

Das Telefon klingelte, und Shelby rannte aus Ross’ Zimmer über den Flur zu dem Apparat neben ihrem Bett. »Shelby?«

»Eli?« Sie war enttäuscht.

»Hat er angerufen?«

»Nein.«

»Schade … lass die Leitung frei, damit er durchkommt, wenn er sich meldet.«

Sie liebte ihn für seine Zuversicht. »Mach ich«, versprach sie, und als sie auflegte, sah sie einen unglücklich dreinschauenden Ethan in der Tür ihres Zimmers stehen.

»Ich glaube, ich bin schuld«, gestand er.

Shelby klopfte aufs Bett, damit er sich neben sie setzte. »Nein, Ethan, ganz bestimmt nicht. Früher hab ich auch gedacht, ich wäre schuld, weil ich irgendetwas nicht geleistet hatte, was Ross von mir gebraucht hätte.«

»Nein, das meine ich nicht.« Sein Gesicht verzog sich. »Wir haben neulich Abend drüber gesprochen – übers Sterben.«

Shelby wandte sich ihm langsam zu. »Was hat er gesagt?«

»Dass er ein Feigling wäre.« Ethan zupfte am Saum der Bettdecke. »Ich habe ihn nach seinen Narben gefragt. Vielleicht musste er ja ständig dran denken, nachdem ich ihn wieder erinnert hatte.«

Sie spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. »Ethan, du hast Onkel Ross nicht auf diese Gedanken gebracht. Die hatte er längst im Kopf, noch bevor er herkam.«

»Warum tut er so was?«, platzte Ethan heraus. »Wieso will er unbedingt sterben?«

Shelby überlegte. »Ich glaube nicht, dass er sterben will. Ich glaube, er will nicht leben.«

Sie saßen eine Weile schweigend da. »Er hat auch gesagt, er besorgt mir ein Mädchen.«

»Er tut was

Ethan wurde rot. »Zum Küssen. Damit ich weiß, wie das so ist.«

»Aha. Und wo will dein Onkel dieses Mädchen besorgen?«

»Weiß nicht. Aber es gibt doch welche, die so was für Geld machen, oder?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er ja jetzt bloß auf der Suche nach einem Mädchen.«

Der Gedanke war lange nicht so beängstigend wie die Vorstellung, dass Ross gerade irgendwo ganz allein starb. »Hoffen wir’s«, sagte Shelby.

Zwei Nächte schlief Ross auf dem Rücksitz seines Wagens auf dem Parkplatz von Wal-Mart. Tagsüber trieb er sich im Krankenhaus herum und schlüpfte zu Ruby ins Zimmer, wenn ihre Enkelin – Meredith, wie er inzwischen erfahren hatte – nicht da war. Ross drängte Ruby nicht, ihm mehr über die Pikes zu erzählen, und Ruby tat es nicht von sich aus. So schlichen sie um den heißen Brei und erzählten sich stattdessen gegenseitig aus ihrem Leben. Ross mochte Ruby – sie hatte einen scharfen Verstand, nahm kein Blatt vor den Mund und war noch dazu Baseballfan. Er wusste, dass ihre Gespräche für sie beide wichtig waren – Ruby brauchte die Zeit, um zu entscheiden, ob sie ihm die Geschichte anvertrauen konnte, die sie wie einen Stein in der Brust trug, und Ross lernte die Frau kennen, die Lias Baby großgezogen hatte.

Sie sprach nicht über Lia oder das Baby, aber sie erzählte ihm von Meredith, der alleinerziehenden, berufstätigen Mutter, die zu viel arbeitete. Von Lucy, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete. Sie musste lachen, wenn Ross den Kardiologen nachahmte, der einen Gang hatte wie ein kleiner Junge mit einer vollen Windel. Und immer wenn Ross zu ihr kam, strahlte Ruby übers ganze Gesicht.

So ähnlich wie Lia.

Meredith ging jeden Tag um drei, um Lucy vom Sommerfreizeitlager abzuholen, und war gegen halb fünf wieder im Krankenhaus. Ross nutzte diese Zeitspanne für seine Besuche bei Ruby. Als er am dritten Tag das Zimmer betrat, saß Ruby in einem Rollstuhl am Fenster.

»Na, wie ich sehe, geht’s bergauf«, sagte Ross.

»Ich wäre gern gleich losgelaufen, aber die Schwester meinte, ich soll erst mal hiermit anfangen.«

»Sehr vernünftig.« Er ließ ein kleines eingepacktes Geschenk in ihren Schoß fallen. »Machen Sie es auf.«

»Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen«, zierte Ruby sich zunächst. Doch dann löste sie die Schleife und das Papier. Zum Vorschein kam ein Kartenspiel. »Ich hab früher mal Poker gespielt«, sagte Ruby. »Mit den Kolleginnen in der Fabrik, in den Zigarettenpausen.«

»Ich hab es vor Kurzem erst gelernt. Von meinem Neffen.«

Sie fing an, die Karten zu mischen, bewegte ihre knotigen Hände verblüffend flink. »Dann will ich am Anfang mal Gnade walten lassen. Wie hoch ist der Einsatz?«

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie eine echte Spielerin sind«, sagte Ross scherzhaft. »Beim nächsten Mal bring ich genügend Bares mit.«

»Hoffentlich keine leere Versprechungen.«

Ruby mischte nur weiter die Karten.

»Es gibt noch was außer Geld, worum wir spielen könnten.«

Ruby zog die Stirn kraus.

Ross blickte ihr in die Augen. »Wir könnten um die Wahrheit spielen?«

Plötzlich schien das Zimmer selbst die Luft anzuhalten. Ruby ordnete die Karten fein säuberlich zu einem Packen. »Aber dann gewinnt keiner«, erwiderte sie.

»Ruby«, sagte er. »Bitte.«

Sie blickte ihn lange an. Dann mischte sie die Karten. »Nennen Sie den Einsatz.«

»Ich beantworte Ihnen eine Frage«, fing Ross an.

Ruby nickte und teilte für sie beide je zwei Karten aus, eine mit der Bildseite nach unten. Ross hatte eine Pik Zehn, Ruby eine Herzdame. Sie hob eine Augenbraue, wartete, dass Ross erhöhte. »Zwei Antworten«, sagte Ross.

»Ich gehe mit.« Sie teilte zwei weitere Karten mit der Bildseite nach unten aus. Ross bekam eine Kreuz Zwei, Ruby die Karodame.

»Sie gewinnen«, sagte Ross.

»Hab ich doch gesagt.«

Er blickte auf sein Blatt. »Drei Fragen nach Ihrer Wahl.«

Ruby zog wieder mit und teilte erneut zwei weitere Karten für jeden aus – Ross eine Kreuz Sechs und ein Kreuzass, Ruby zwei Könige.

»Ich erzähl Ihnen alles!«, erhöhte Ruby und fügte dann hinzu: »Ich will sehen.« Ross nickte, und beide drehten sie ihre Karten auf dem Tisch um. Ross sah, dass Ruby drei Herzen hatte. »Schlägt das eine Kreuz Zwei?«

»Eigentlich nicht«, sagte Ruby. »Aber Ihr Flush schlägt meine zwei Paare.«

»Obwohl Sie Leute mit einer Krone auf dem Kopf haben?«

»Ja. Anfängerglück, schätze ich.« Sie nahm seine Karten, und Ross sah, dass ihre Hand zitterte. »Also dann«, sagte sie und sah ihn an.

»Also dann«, erwiderte er leise.

Eines von den Geräten, an die sie angeschlossen war, fing an zu piepen, weil die Infusionslösung fast zu Ende war. Jeden Augenblick würde eine Krankenschwester hereinkommen. Und bis die Lösung ausgetauscht war, wäre Meredith sicherlich schon mit Lucy zurück. »Ich werde morgen entlassen«, sagte Ruby.

»Dann muss ich Ihre Spielschulden eben bei Ihnen zu Hause eintreiben.«

»Ich werde Sie erwarten.« Er stand auf und war schon auf dem Weg zur Tür, als die Krankenschwester hereinkam. »Ross«, rief Ruby. »Danke für die Karten.«

»Gern geschehen.«

»Ross!« Er drehte sich um, die Hand schon an der Tür. »Ich hab Sie gewinnen lassen«, sagte Ruby.