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Ross lächelte. »Ich weiß.«

Shelby träumte von Blut, das dick wie Sirup eine Straße überschwemmte, als das Telefon sie weckte. »Ach, Mist«, sagte Ross, als sie sich meldete. »Du schläfst ja mittags. Ich hab nicht daran gedacht.«

Sie saß augenblicklich kerzengerade im Bett. »Ross? Geht’s dir gut? Ich hatte Angst, du wärst tot!«

»Ich bin nicht tot. Ich bin bloß in Maryland.« Ross schien ehrlich verdattert. »Wie kommst du denn auf so was?«

»Oh, ich weiß auch nicht – wahrscheinlich bloß eine blöde Fehlinformation. Zum Beispiel dein Abschiedsbrief und der Umstand, dass du schon mal versucht hast, dich umzubringen?«

»Das war doch kein Abschiedsbrief. Ich meine, nicht so einer. Ich hab bloß auf die Schnelle Auf Wiedersehen sagen wollen.« Als Shelby schwieg, fügte Ross bekümmert hinzu: »Aber ich kann dich verstehen, tut mir leid. Hör mal, ist Eli zufällig bei dir?«

»Eli sucht deine Leiche«, sagte Shelby spitz.

»Aha. Kannst du ihm bitte was ausrichten? Sag ihm, ich habe Ruby Weber gefunden.«

Shelby brauchte einen Augenblick, bis sie den Namen einordnen konnten. »Das Hausmädchen? Was hat sie dir erzählt?«

»Nichts«, gestand Ross. »Bisher jedenfalls.«

»Wann kommst du wieder?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber du kommst doch wieder?«

Statt auf die Frage zu antworten, sagte Ross: »Das Geld ist gleich alle «, und die Verbindung brach ab.

Shelby hielt den Hörer in der Hand. Die Sonne prallte gegen die heruntergelassenen Jalousien, drang durch die Ritzen. Shelby stieg aus dem Bett, zog die Jalousien hoch und ließ das Licht hereinfluten.

Ross klingelte an Rubys Haustür und steckte die Hände in die Taschen: Sie waren voller Rosenblütenblätter. »Ich weiß«, sagte er laut. »Ich bin auch nervös.«

Die Frau, die im Schwesternkittel an die Tür kam, war groß und kräftig und trug lange Rastazöpfe, die ihr bis zum Po reichten. »Wir kaufen nichts«, sagte sie und wollte die Tür wieder zuwerfen.

»Ich will auch nichts verkaufen. Ich möchte zu Ruby. Sagen Sie, Ross ist da.«

»Ms. Weber schläft.«

Eine Stimme aus dem Innern des Hauses rief: »Nein, ich schlafe nicht.«

Die Pflegerin kniff die Augen zusammen und trat zur Seite, um Ross ins Haus zu lassen. Sie knurrte etwas in einer Sprache, die Ross nicht verstand. Ross folgte ihr ins Wohnzimmer, wo Ruby auf einer Couch saß, eine Häkeldecke über den Beinen. »Willkommen zu Hause«, sagte er.

»Willkommen in meinem Haus.« Ruby wandte sich der Pflegerin zu. »Tajmalla, würden Sie uns allein lassen?«

Mit einer Haltung, die Ross an afrikanische Priesterinnen denken ließ, schwebte sie aus dem Zimmer. »Sie ist vom städtischen Pflegedienst«, sagte Ruby. »Sie bringt mir Swahili bei. Herrliche Sprache, fühlt sich an, als würde einem ein Fluss durchs Gehirn fließen.«

Ross setzte sich Ruby gegenüber. »Na los. Zeigen Sie mal, was Sie gelernt haben.«

Sie konzentrierte sich einen Augenblick. »Liya na tabia yako usilaumu wenzako.«

»Heißt das Hallo?«

»Nein. Es bedeutet: ›Mach andere nicht für die Probleme verantwortlich, die du dir selbst eingebrockt hast.‹«

Ross schüttelte den Kopf. »Ich hätte gedacht, als Anfänger lernt man als Erstes ›Hi, ich heiße Ross.‹«

»Eigentlich schon«, sagte Ruby, »aber ich hab sie gebeten, diesen Satz für mich zu übersetzen.« Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »Ich dachte, es wäre eine Hilfe, den Satz parat zu haben.« Bevor ich dir den Rest erzähle. »Als Erstes müssen Sie mir was erklären. Warum kommen Sie ausgerechnet jetzt mit der Geschichte?«

Ross dachte an Lia, wie sie ihm auf dem Pike-Grundstück erschienen war; an Shelby, wie sie die Ahnentafeln entrollte; an die Blütenblätter in seinen Taschen. »Weil ich wissen muss, was jemandem widerfahren ist, den ich liebe«, sagte er.

Ruby zog die Decke höher. »Er hat gesagt, ich soll das Baby begraben.«

»Spencer Pike?«

Sie nickte. »Wissen Sie – nun, ich habe seitdem nie wieder so einen Menschen getroffen. Er hatte so eine Art, mit einem zu reden, und ehe man sich’s versah, stimmte man allem zu, was er sagte, ohne dass man wusste, wie einem geschah. Ich habe immer gedacht, dass Cissy Pike ihn deshalb geheiratet hat.« Ruby blickte Ross an. »Sie hatte sich mit einem Indianer angefreundet, und die beiden haben sich oft heimlich getroffen. Der Professor hatte das mitbekommen. Eines Tages dann hat er ihn bei ihr im Zimmer ertappt und aus dem Haus geworfen. Miz Pike hat er geschlagen … und plötzlich haben bei ihr die Wehen eingesetzt.«

»Ist das Baby lebend zur Welt gekommen?«

Ruby wirkte überrascht über die Frage. »Oh ja. Das Kind hat lauthals geschrien …« Sie zögerte. »Professor Pike hat das Baby mitgenommen, damit seine Frau sich ausruhen konnte. Ich war noch beim Saubermachen, als er zurückkam und sagte, das Baby wäre gestorben. Er hatte die Kleine ins Eishaus gelegt, und er wollte, dass ich sie in einer alten Apfelkiste begrabe, bevor seine Frau wach wurde.«

»Hat er gesagt, woran das Baby gestorben war?«

Ruby schüttelte den Kopf. »Nein, und ich hab auch nicht gefragt. Ich glaube, ich wusste die Antwort. Ich bin ins Eishaus gegangen, und da lag sie, wie ein Püppchen in eine Decke eingewickelt. Sie sah aus wie ein Engel, und ich brachte es einfach nicht fertig, sie so in die Erde zu legen. Ich habe sie also in die Apfelkiste gelegt, aber den Deckel offen gelassen. Ich dachte, soll er doch das Baby selbst begraben, wenn er es für richtig hält.

Als ich wieder ins Haus kam, saß er in seinem Arbeitszimmer und trank. Ich bin dann nach oben ins Bett. Und mitten in der Nacht hörte ich plötzlich ein Baby weinen. Ich bin aufgestanden und nach draußen gegangen, immer dem Weinen nach.« Sie schauderte. »Manchmal höre ich es noch heute in der Nacht, kurz bevor ich einschlafe. Ich bin zum Eishaus gegangen, wo das Weinen herkam. Kurz vor der Tür bin ich gegen die Beine von Cissy Pike gestoßen.« Rubys Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Sie hing an einem Seil, das an einem Balken vom Vordach festgebunden war, ihre Augen waren weit geöffnet und hellrot … ich hab aufgeschrien. Ich dachte, der Professor hat sie umgebracht – und ich bin als Nächste dran. Ich wollte Reißaus nehmen, sofort – und da hörte ich es wieder. Das Weinen. Das Baby, das ich mit eigenen Augen tot hatte daliegen sehen, im Eishaus, in der Apfelkiste, schrie und strampelte.«

»Und Sie haben die Kleine mitgenommen.«

Ruby warf Ross einen Blick zu. »Ich hatte versprochen, mich um das Baby zu kümmern, falls irgendetwas passieren würde. Also hab ich das Baby aus der Kiste genommen, stattdessen einen Braten hineingelegt, den wir für eine Dinnerparty vorgesehen hatten, und den Deckel zugenagelt, genau wie der Professor es gewollt hatte. Dann bin ich mit dem Baby auf und davon.«

»Was ist aus der Kleinen geworden?«

Ruby schaute weg. »Sie war kränklich und ist auf dem Weg nach Baltimore gestorben.«

Ross dachte an Lia, an Lily, an Meredith. Und plötzlich wusste er, warum Ruby log. »Sie haben es ihr nicht erzählt«, sagte er leise.

Ihre Blicke trafen sich in jenem kleinen, engen Raum, in dem Worte keinen Platz finden. Nach all den Jahren, in denen das Geheimnis schwer auf ihr gelastet hatte, war Ross gekommen und bot ihr eine Schulter an. Aber dass sie sich ihm anvertraut hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch bereit war, es jemand anderem zu sagen.

Plötzlich ertönten trappelnde Schritte, und das kleine Mädchen, das Ross Tage zuvor in Begleitung seiner Mutter gesehen hatte, kam ins Wohnzimmer gelaufen. »Granny, wir sind wieder da.«

Gleich darauf erschien Meredith in der Tür, gefolgt von Tajmalla. »Wie geht’s dir?«, fragte sie Ruby, bevor ihre Augen sich auf Ross richteten. »Sie schon wieder.«