Ross stand auf. Er wollte sich vorstellen, doch die fast unheimliche Ähnlichkeit dieser Frau mit Lia Pike verschlug ihm die Sprache.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie mit meiner Großmutter zu schaffen haben«, sagte Meredith, »aber ich glaube kaum, dass …«
»Sein Name ist Ross, Liebes«, fiel Ruby ihr ins Wort. »Er will dich zum Essen abholen.«
»Was?«, entfuhr es Ross und Meredith gleichzeitig.
»Ich weiß genau, dass ich dir das gesagt habe. Letzte Woche.«
»Letzte Woche warst du im Krankenhaus und hast mit Leuten geredet, die gar nicht im Zimmer waren.«
Ruby lächelte sie verkniffen an. »Ross ist ein guter Freund … einer alten Freundin von mir. Und ich hab ihm schon so viel von dir erzählt.«
Ross spürte, wie Meredith ihn prüfend ansah und alles andere als zufrieden war. Dann schaute sie die Frau an, die sie für ihre Großmutter hielt – eine Frau, die fast gestorben wäre –, und ihr Blick wurde weicher. War das ein Trick von Ruby, um Ross loszuwerden? Wollte sie ihn auf diese Weise drängen, Meredith die Wahrheit zu sagen? Oder wollte sie ihm zu verstehen geben, warum sie ihr nicht selbst die Wahrheit gesagt hatte?
Jedenfalls wusste Ross, dass er mit dieser Frau ausgehen würde. Und sei es auch nur, um ihr gegenübersitzen und das Gesicht anstarren zu können, das ihm nicht mehr aus dem Sinn ging.
»Würden Sie mich, ähm, kurz entschuldigen«, sagte Meredith höflich zu Ross und wandte sich Ruby zu. Im Flüsterton, aber für Ross’ Ohren nicht leise genug, sagte sie: »Ruby, er ist nicht mein Typ …«
»Meredith, um einen Typ zu haben, muss man ab und zu mal mit einem ausgehen.« Ruby lächelte. »Lucy und Tajmalla können mir Gesellschaft leisten.«
»Auf einen Kaffee«, hörte Ross sich sagen. »Nur eine Tasse.«
Meredith wandte sich wieder an Ruby. »Wenn es dir wieder besser geht, erinnere mich bitte daran, dir den Hals umzudrehen«, murmelte sie und sagte dann zu Ross: »Nur eine Tasse.«
Ross blickte Ruby an, aber ihre Miene war undurchsichtig. Und als er mit Meredith aus dem Wohnzimmer ging, zwei Fremde, die beide dachten, den anderen besser zu kennen, als es der Fall war, merkte Ross, dass ihr Parfüm schwach nach Rosen roch.
Sie tat das nur, so sagte Meredith sich, weil sie nicht wollte, dass Ruby sich wieder aufregte. Angewidert sah sie zu, wie Ross Kaffeebecher, Musikkassetten und Zigarettenpackungen vom Beifahrersitz seiner alten Klapperkiste räumte und auf den Rücksitz warf. »Tut mir leid«, sagte er und hielt ihr die Tür auf.
Es roch nach Zigarettenqualm. Meredith beobachtete ihn, wie er zur Fahrerseite ging. Sein Haar war lang, stumpf geschnitten und reichte ihm fast bis auf die Schultern. Er trug ein kurzärmeliges Hemd offen über einem T-Shirt, und seine Jeans hatte ein Loch am linken Oberschenkel. Er sah aus wie jemand, der in U-Bahn-Gängen Gitarre spielte oder in einem verräucherten Café hockte und schlechte Gedichte schrieb. Wie jemand, der sich als Taxifahrer verdingte, während Leute wie sie, Meredith, sich abrackerten, um zu promovieren. Wie jemand, den sie normalerweise keines zweiten Blickes gewürdigt hätte.
Der Wagen sprang erstaunlicherweise sofort an. »Also«, sagte er lächelnd. »Wohin?«
»Irgendwas in der Nähe.« Meredith beschrieb ihm den Weg zum ersten Starbucks, das ihr einfiel, und als er sich abwandte, meinte sie, sich den Hauch von Enttäuschung in seinen Augen nur eingebildet zu haben.
Was für Augen. Das musste sie ihm lassen. Er hatte Augen wie Waldteiche, in denen man versinken wollte, so leuchtend grün.
Er hielt eine Packung Zigaretten hoch. »Was dagegen, wenn ich rauche?«
Und ob sie was dagegen hatte, aber es war ja sein Auto. Sie kurbelte das Fenster herunter, während er sich eine Zigarette anzündete und tief inhalierte. »Nur zu Ihrer Information«, sagte Meredith, »normalerweise lasse ich mich von meiner Großmutter nicht verkuppeln.«
»Klar.«
»Was soll denn das heißen?«
Ross blies einen Streifen Rauch zum Fenster hinaus. »Dass eine Frau wie Sie für Verabredungen keine Nachhilfe braucht.«
Meredith spürte, wie sie rot wurde. »Wie ich«, wiederholte sie, sofort auf der Hut. »Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Stimmt«, gab Ross zu.
»Dann verschonen Sie mich bitte mit Ihren Unterstellungen.« Aber, so dachte Meredith, hatte sie nicht genau das Gleiche bei ihm gemacht?
Er fuhr mit der rechten Hand am Steuer, die Zigarette in der linken. »Sie erinnern mich bloß an eine Frau, die ich mal gekannt habe. Sie war ebenso schön wie Sie.«
Die wenige Male in ihrem Leben, die jemand ihr Komplimente wegen ihres Aussehens gemacht hatte, konnte sie an einer Hand abzählen. Erfolgreich, intelligent, kreativ lauteten gemeinhin die Adjektive, mit denen sie belegt wurde. Doch sie selbst hatte ja ihre physischen Attribute immer in den Hintergrund gedrängt und stattdessen ihren scharfen Verstand herausgestellt. Schön, dachte sie.
Sie fragte sich, was aus der Frau geworden war, die er mal gekannt hatte. War sie gestorben, oder hatte sie ihn verlassen? Meredith betrachtete Ross erneut, und diesmal sah sie keinen Verlierertyp mehr, sondern einen Menschen, der eine Geschichte zu erzählen hatte.
Zu ihrer eigenen Überraschung wollte sie sie hören.
»Und?«, fragte Ross, und sie dachte, er könnte vielleicht auch Gedanken lesen.
»Und was?«
»Gehen wir rein?« Er blickte zum Seitenfenster hinaus, und sie merkte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Er hatte ein Grübchen in der linken Wange, wenn er lächelte.
»Ja, klar.«
Ross stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. Sie gingen in das Café und stellten sich in die Schlange vor der Theke. »Wissen Sie, was Sie möchten?«, fragte er.
Zum ersten Mal seit Jahren hatte Meredith keine Antwort parat.
Bruno Davidovich hatte sich schon in allen möglichen Jobs versucht, er war Profifootballer gewesen, Rausschmeißer und Fernsehkoch, bevor es ihn in die Lügendetektorbranche verschlug. Wichtig sei, so hatte er Eli erklärt, den Probanden keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er erschien stets pünktlich zu den Testterminen, was einer der beiden Gründe war, warum Eli ihn gern engagierte. Der andere war der, dass Bruno den Leuten allein schon durch seine Körpergröße solchen Respekt einflößte, dass sie die Wahrheit sagten.
»Bitte entspannen Sie sich«, sagte Bruno zu Spencer Pike, der bereits an den Polygraphen angeschlossen war. Pike hatte sich auf Elis Anfrage zu dem Test bereiterklärt, weil er, wie er sagte, die Sache endgültig geklärt haben wollte. Jetzt waren ihm zwei Pneumographenschläuche an Brust und Bauch befestigt worden, sein Ring- und Zeigefinger waren mit zwei Metallplatten verbunden, und um seinen dünnen Oberarm schlang sich eine Manschette für das Messen des Blutdrucks.
»Ist heute Mittwoch?«, fragte Bruno.
Pike verdrehte die Augen. »Ja.«
»Ist Ihr Name Spencer Pike?«
»Ja.«
»Ist Ihr Gesundheitszustand gut?«
Eine Pause. »Nein.«
»Haben Sie jemals gelogen?«, fragte Bruno.
»Ja.«
»Haben Sie jemals in wichtigen Dingen gelogen?«
»Ja.«
»Haben Sie jemals gelogen, weil Sie sonst in eine schwierige Lage gekommen wären?«
»Ja.«
Eli hörte zu, wie Bruno sich zu den wichtigen Fragen vortastete. Das Ergebnis des Detektortests war zwar weder vor Gericht verwendbar, noch konnte es als eindeutiger Beweis für Spencer Pikes Schuld oder Unschuld herhalten. Aber Eli musste um seines eigenen Seelenfriedens willen wissen, warum Spencer Pike offenbar meinte, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein, das gar nicht ermordet worden war, und andererseits den Mord an seiner Frau abstritt.
»Ist das Baby tot zur Welt gekommen?«, fragte Bruno jetzt.
»Nein.«
»Haben Sie das Baby nach der Geburt auf dem Arm gehalten?«