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»Nein, im Ernst. Ich bin von Kugeln und vom Blitz getroffen worden. Ich bin bei einem Verkehrsunfall aus dem Wagen geschleudert worden und immer nahezu unbeschadet davongekommen.«

»Sie machen Witze.«

»Ich kann Ihnen die Arztrechnungen zeigen.«

Meredith war einen Moment lang sprachlos. »Das nenn ich ein beachtliches Talent.«

»Das Talent nützt aber nichts, wenn man jemand anderen retten will«, sagte Ross.

»Ihren Neffen.«

»Unter anderem.«

Sie beugte sich vor, angezogen von dem Schmerz, den sie tief in seinen Augen sah. »Die Frau, die Sie vorhin erwähnt haben? Der ich ähnlich sehe?«

Er antwortete nicht – er konnte es einfach nicht, jetzt nicht. Meredith fragte sich, wie es wohl wäre, wenn ein Mann sie so sehr lieben würde, dass er noch nach ihrem Tod nicht von ihr loskäme. Vielleicht würde er in den Gesichtern anderer Frauen ihr Gesicht suchen. Der Starbucks-Mitarbeiter kam an ihren Tisch. »Hier ist Rauchen verboten.«

Ross wandte sich ihm zu. »Ich rauche nicht, ich betreibe Autodestruktion.«

Der junge Mann blickte irritiert. »Mensch, was Sie sonst so treiben, ist mir egal, aber geraucht wird hier nicht.«

Meredith hustete, um ihr Lachen zu überspielen. »Wir sollten langsam gehen.« Sie zögerte. »Es war wirklich nett mit Ihnen. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich das zu einem männlichen Wesen gesagt und es auch so gemeint habe, war im Kindergarten.« Meredith blickte schüchtern zu ihm hoch. »Sind Sie noch länger in der Gegend? Vielleicht könnten wir uns ja noch mal treffen. Dann für ein komplettes Abendessen. Oder auch erst mal nur für die Vorspeise.«

»Ich kann nicht.«

Das hatte Meredith schon öfter erlebt, dass ihr Gegenüber sie nicht attraktiv genug fand oder einfach andere Vorstellungen hatte. Sie spürte, wie sie innerlich auf Distanz ging. »Nun, dann eben nicht.» Sie hielt ihm forsch die Hand hin. »Jedenfalls, es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«

Er nahm ernst ihre Hand, hielt sie ganz vorsichtig. »Meredith«, sagte Ross leise, »ich mag Sie, ich mag Sie sehr. Aber es gibt da eine andere Frau.«

Die Frau, mit der Meredith so große Ähnlichkeit hatte. Sie senkte den Kopf. »Verzeihen Sie«, murmelte sie. »Ich wusste nicht, dass Sie noch mit ihr …«

Sie spürte, wie ihr etwas in die Hand gedrückt wurde. Ein Zeitungsausschnitt, vergilbt und verblasst, aber das Gesicht der Frau auf dem Foto war noch zu erkennen. Ein Gesicht wie Meredith’ Spiegelbild. Lia Beaumont Pike, lautete die Überschrift. 1914–1932.

»Sie war Ihre biologische Großmutter«, sagte Ross. »Und ich liebe sie.«

Es war ein Krieg, das wurde Ross klar, und Meredith verlor. Sie stand mit verschränkten Armen da, den Rücken kerzengerade, die Augen lodernd vor Wut. Ross und Ruby, die auf der Couch saß, parierten ihre Attacken und hofften, sie endlich überzeugen zu können.

»Als ich deiner Mutter erzählt habe, dass sie nicht meine Tochter ist, dass sie nicht Luxe, sondern in Wirklichkeit Lily Pike heißt«, sagte Ruby, »hat sie einen Herzinfarkt bekommen und ist gestorben. Kannst du es mir da verdenken, dass ich dir die Sache verschwiegen habe?«

»Ja, das kann ich!«, schrie Meredith. »So was verschweigt man keinem Menschen!«

»Doch, wenn man ihn nicht verlieren will«, schaltete Ross sich ein.

Sie fuhr herum wie ein verwundetes Tier: »Erklären Sie mir doch mal eines. Wie können Sie eine Frau kennen, die längst tot war, als Sie auf die Welt kamen?«

»Ich habe Sie bei meiner Arbeit kennengelernt.«

»Arbeit. Wecken Sie Tote auf?«

Ross warf Ruby einen Blick zu. »Ich suche nach ihnen.«

»Toll. Sie jagen Geister, wenn Sie nicht gerade vom Blitz getroffen werden und wie durch ein Wunder am Leben bleiben. Ruby, ich begreife nicht, wieso du dich von dem Typen so um den Finger wickeln lässt. Der ist doch verrückt. Ich glaube …«

»Ich glaube, du solltest ihm lieber zuhören, Meredith«, unterbrach Ruby sie. »Er sagt die Wahrheit.«

»Die Wahrheit. Jetzt glaubst du also auch an Geister? Na schön. Dann rufen Sie doch mal meine Großmutter herbei. Wenn sie hereingeschwebt kommt und mir das Gleiche erzählt, dann glaub ich Ihnen.«

»So funktioniert das nicht«, erklärte Ross.

»Wie praktisch.«

»Lass deinen Zorn nicht an ihm aus«, sagte Ruby mit ernster Miene.

»Soll ich mich bei ihm bedanken, weil er mir erzählt, dass mein ganzes Leben bisher eine Lüge war?«

»Es war keine Lüge«, sagte Ross. »Es … war bloß anders, als Sie gedacht haben.« Er ging auf Meredith zu. »Sie sind Lia Pikes Enkelin. Und somit gehört Ihnen ein Grundstück in Comtosook, Vermont.«

Er hätte ihr gern erzählt, dass man von dem Grundstück aus einen wunderschönen Blick auf die üppig grünen Berge hatte und dass die Luft unvorstellbar sauber roch. Er hätte ihr gern die Stelle gezeigt, wo er sich in Lia verliebt hatte.

»Ich brauche kein Grundstück in Vermont«, sagte Meredith.

»Aber eine ganze Reihe Abenaki-Indianer schon. Die versuchen nämlich zu verhindern, dass auf dem Land gebaut wird.«

»Das ist nicht mein Problem.«

»Nein, aber wenn Ihnen das Land gehört, können Sie entscheiden, was damit geschehen soll.«

»Aha, jetzt kapier ich, woher der Wind weht. Sie sind so einer, der sich für die Rechte der Indianer einsetzt.«

»Ich bin …«

»Und klar, wenn Sie mich überzeugen können, dass in meinen Adern auch Abenaki-Blut fließt, dann werde ich mich bestimmt auf die Seite meiner Verwandten stellen. Bin ich denn die Einzige hier, die nicht mit Blindheit geschlagen ist? Seht mich doch an.« Meredith löste ihren Haarknoten. »Ich bin blond. Ich bin hellhäutig. Sehe ich aus, als hätte ich auch nur einen Tropfen Indianerblut in mir?«

»Nein, aber Lia sah auch nicht so aus. Hören Sie, Sie sind Wissenschaftlerin«, sagte Ross. »Ihr Urgroßvater Az Thompson ist noch am Leben. Ein DNA-Test könnte den Beweis erbringen.«

»Und dann?«

Ross sah Ruby an, dann wieder Meredith. »Das liegt bei Ihnen.«

Meredith kniff die Augen zusammen. »Was haben Sie eigentlich davon? Kassieren Sie Provision von den Abenaki? Kriegen Sie einen Vertrag für ein Buch?«

»Nichts.« Ross blickte auf den Tisch, auf Lias Todesanzeige. »Ich möchte ihr bloß helfen.«

Plötzlich spürte er kleine Hände an seinem Knie, die ihn aus dem Weg schoben. Meredith’ Tochter Lucy, die längst schlafen sollte, hatte gelauscht. »Lucy!«, sagte Ruby. »Wieso bist du denn auf?«

»Ab zurück ins Bett«, befahl Meredith.

Aber Lucy zeigte auf Lias große Augen, die weißen Wangen. »Sie hat ihr Baby verloren.«

Alles in Ross erstarrte.

»Lucy.« Meredith ging in die Hocke. »Ich weiß nicht, was du alles aufgeschnappt hast, aber …«

»Lassen Sie sie reden«, murmelte Ross.

»Sie sagt es mir jedes Mal.« Lucy stockte. »Sie hat auch gesagt, dass Sie kommen würden.«

»Wer hat das gesagt?«, fragte Ross tonlos.

»Die Frau da«, sagte Lucy und zeigte auf Lias Foto. »Die seh ich immer mitten in der Nacht.«

Eli war nicht bewusst gewesen, wie heruntergekommen sein Zuhause aussah, bis er es durch Shelbys Augen sah. »Erwarte nicht zu viel«, hatte er sie gewarnt, und als er die Haustür öffnete, stachen ihm gleich der zerkratzte Holzboden und die schäbige Couch ins Auge. In der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr, neben der Tür lagen seine Schuhe durcheinander. »Ich, ähm, hab’s nicht mehr geschafft aufzuräumen«, entschuldigte sich Eli.

»Wow!« Ethan drängte sich an ihnen vorbei. »So will ich auch mal wohnen«, sagte er und folgte Watson die Treppe hinauf. Gleich darauf erklang ein Begeisterungsschrei.

Eli blickte zur Decke. »Schätze, er hat den Schießstand entdeckt.«