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Um Ruby kümmerte sich Tajmalla, die ein wenig beleidigt gewesen war, dass Meredith zuerst Bedenken geäußert hatte, ihre Großmutter – oder was immer sie war – in der Obhut einer städtischen Altenpflegerin zu lassen. Auf der Fahrt nach Norden hatte im Auto Schweigen geherrscht, nur unterbrochen von den Verkehrsdurchsagen im Radio.

Meredith sprach nicht mit Ross. Als sie zusammen im Starbucks gewesen waren, hatte sie den Rauch seiner Zigarette beobachtet und das Gefühl gehabt, er forme sich zu Buchstaben einer geheimen Botschaft. Sie hatte auf seiner Haut Vanille gerochen, und ihr war schwindelig geworden. Sie hatte aus seiner Kaffeetasse getrunken, als er mal zur Toilette gegangen war, hatte ihre Lippen auf die Stelle gelegt, die seine Lippen berührt hatten, damit ihre Sinne sich daran erinnern würden, wenn – nicht falls – sie ihn schließlich richtig schmecken würde.

Sie hatte sich lächerlich gemacht.

Nach all den katastrophalen Verabredungen mit Männern, die sie als interessant eingeschätzt hatte, löste ausgerechnet ein Typ, den sie nicht mal eines Blickes gewürdigt hätte, Gefühle bei ihr aus, wie es keinem vor ihm gelungen war. Auf den ersten Blick war Ross Wakeman ein Niemand. Doch wenn man genauer hinschaute, sah man seinen Humor, seinen Charme, seine Verletzlichkeit.

Und dass er rettungslos in eine andere Frau verliebt war, noch dazu eine tote.

»Und?«, sagte Meredith laut. »Sind wir da?«

Ross nickte. »Das ist Comtosook.«

Sie bogen von der Hauptstraße auf einen Schotterweg. Doch statt an einem der wenigen Häuser anzuhalten, fuhr Ross bis ans Ende durch und parkte den Wagen. »Wo sind wir?«, fragte sie.

Es war schon fast dunkel, der Himmel sah aus wie die glänzende Haut einer Aubergine. Meredith folgte Ross in den Wald. Sie war schließlich Wissenschaftlerin, sagte sie sich, und von Natur aus neugierig.

Mit Lucy dicht an ihrer Seite ging Meredith über Wurzeln und Steine und, wie es aussah, Bauschutt. Plötzlich öffnete der Wald sich, und sie sah eine große, kahle Fläche, die mit Plastikband abgesperrt war. »Hier wohnen Sie?«

Ross murmelte etwas, das sich anhörte wie: Schön wär’s.

Plötzlich wusste Meredith, wo sie war. »Ach, verdammt«, seufzte sie und nahm Lucys Hand, um zum Wagen zurückzugehen. Sie hatte gerade mal zwei Schritte geschafft, als Ross sie festhielt und umdrehte. »Sie«, sagte er mit wildem Blick, »bleiben schön hier.«

Meredith war sich jetzt ganz sicher, dass Ross Wakeman tatsächlich wahnsinnig war. Außerdem war er größer und stärker als sie und mit ihr und Lucy allein. Also verschränkte Meredith die Arme vor der Brust und gab sich tapfer. Sie wartete darauf, dass irgendein Geist erschien oder dass Ross endlich kapierte, dass es hier niemanden zu sehen gab.

Lucy zitterten die Knie so heftig, dass Meredith es regelrecht hören könnte. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Das ist alles bloß fauler Zauber.«

Als Ross das hörte, wandte er sich langsam ab. Die qualvolle Trostlosigkeit in seinen Augen ließ sie schlucken. Was, wenn jemand sie so innig lieben würde? »Es … es tut mir leid«, murmelte sie.

Ross rannte förmlich über den Weg zurück aus dem Wald. Meredith folgte mit Lucy. Sie sagte sich, dass damit zu rechnen gewesen war. Ich bin nicht Lia, dachte sie. Ich bin es nicht.

Shelby zog sich gerade ihr T-Shirt über den Kopf, als sich ihr plötzlich die Nackenhaare sträubten. Sie lief zum Fenster und sah gerade noch, wie die Scheinwerfer eines Wagens ausgingen. »Ross«, flüsterte sie, und dann jauchzte sie auf und lief nach unten, um ihren Bruder zu begrüßen.

Vor dem Haus warf sie ihm die Arme um den Hals. »Gott sei Dank, du bist wieder da.«

Er lächelte. »Bei dem Empfang werde ich öfter wegfahren.«

Über seine Schulter hinweg sah Shelby eine Frau aus dem Wagen steigen. Und ein kleines Mädchen. »Shel«, sagte Ross und trat zur Seite: »Ich möchte dir Lia Pikes Enkelin vorstellen.«

»Das muss sich erst noch zeigen«, sagte die Frau, aber sie gab Shelby die Hand. »Meredith Oliver. Und das ist meine Tochter Lucy. Entschuldigen Sie, dass wir so spät hier aufkreuzen …«

»Das macht überhaupt nichts. Wir stehen gerade auf«, erwiderte Shelby. »Kommt alle mit rein.«

Ross ging voraus, dann brummte er: »Ich bin hundemüde«, und verschwand nach oben.

Shelby und Meredith waren beide gleichermaßen fassungslos ob dieser Unhöflichkeit. Als Shelby sich wieder gefangen hatte, beugte sie sich zu Lucy hinab. »Mein Sohn ist im Garten, durch die Tür da vorne. Er ist ungefähr so alt wie du. Willst du ihm nicht Hallo sagen?«

Lucy drückte sich an Meredith. »Na, geh schon«, drängte Meredith und schob ihre Tochter behutsam von sich weg. Die Kleine stakste zögerlich zur Tür.

»Lucy braucht immer ein Weilchen, bis sie auftaut«, erklärte Meredith.

Shelby war jetzt mit dieser Frau allein, die offensichtlich genauso ungern hier war wie ihre Tochter. »Hätten Sie, ähm, vielleicht Lust auf eine Tasse Kaffee?« Als sie ihnen beiden einschenkte, nahm Shelby Meredith über die Kanne hinweg genauer in Augenschein. Honigblondes Haar, kastanienbraune Augen … irgendwie kam sie ihr bekannt vor.

Meredith stand am Küchenfenster und sah zu, wie ihre Tochter sich draußen umsah. Etwas entspannter nahm sie Platz. »Glauben Sie auch an Geister?«, fragte sie.

»Ich glaube an meinen Bruder.«

Verdrossen blickte Meredith weg. »Es war schon etwas merkwürdig, müssen Sie wissen, dass Ihr Bruder so einfach aus dem Nichts auftaucht und mir sagt, ich müsste mit nach Vermont kommen.«

Shelby schob ihr ein Kännchen Sahne und eine Zuckerdose hin. »Manchmal ist man erst von etwas überzeugt, wenn man es mit eigenen Augen sieht.«

»Stimmt«, sagte Meredith. »Vor hundert Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass etwas mikroskopisch Kleines für die Körpergröße oder die Hautfarbe oder die Intelligenz eines Menschen verantwortlich ist – was heute niemand mehr bezweifelt.«

Dann können wir ja vielleicht in hundert Jahren Geister sehen, dachte Shelby. Doch stattdessen sagte sie höflich: »Haben Sie beruflich damit zu tun? Mit DNA-Forschung?«

»Nein, genauer gesagt, mit PID. Das bedeutet, Präimp…«

»Ich weiß, was das bedeutet«, fiel Shelby ihr ins Wort. »Ich hab mal …«

Sie brach ab, ließ den Löffel fallen, den sie in der Hand hielt. Vor ihrem inneren Auge sah sie plötzlich den Eintrag in ihrem Kalender, rot umkringelt: Dr. Oliver, Genetikerin. Der Termin war abgesagt worden, weil Dr. Oliver einen Abtreibungstermin hatte.

Shelby drehte den Kopf zum Fenster, zu den beiden Kindern im Garten. »Sie haben das Baby behalten«, flüsterte sie.

Meredith hob den Kopf. »Was haben Sie gesagt?«

»Schon gut«, sagte Shelby mit einem breiten Lächeln und schenkte Meredith Kaffee nach.

Lucy fand es gruselig, im Dunkeln durch einen fremden Garten zu laufen. Von dem Jungen war nichts zu sehen. Nur seine Sachen lagen überall herum: ein Baseballschläger, ein Kickboard. Der Garten selbst war voller Falter, die wie Feen über den Pflanzen schwebten.

Plötzlich trat sie auf ein Skateboard, das auf die Einfahrt rollte und dort gegen einen Pfahl prallte. Sie hob es auf, und dann drang eine Stimme in ihren Kopf. He, hörte sie. Was machst du denn da?

So sprachen die Geister immer mit ihr, als hätte sie Lautsprecher im Gehirn. Und als sie sich umdrehte, mit rasendem Herzen, rechnete sie bereits mit dem weißen Gesicht, das vor ihr auftauchte. Sie schluckte. »Bist du ein Geist?«, fragte sie.

Was war das denn für eine blöde Frage? »Noch nicht«, sagte Ethan und nahm der kleinen Zicke, die in seinen Garten eingedrungen war, sein Skateboard ab. Er stellte sich drauf und vollführte den coolsten Kickflip, den er zustande brachte, bloß um ihr so richtig zu imponieren. Geist. Als müsste er daran erinnert werden.