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Ross legte den Kopf schief. »Lieben Sie sie?«

Eli nickte. »Ja. Ich glaube, ja.«

»Wenn sie nach Burlington ziehen würde, würden Sie dann mitgehen?«

»Klar.«

»Und wenn sie nach Seattle ziehen würde?«

Eli zögerte, und dann spürte er, wie sich etwas in seiner Brust löste. »Ja, ich würde mitgehen.«

»Und wenn sie irgendwo hinwollte, wo man noch schwerer hinkommt?«

»Wenn zwei Menschen sich über alles lieben, dann überwinden sie jede Hürde, um zusammenzubleiben.«

»Aber was ist, wenn sie irgendwo hinginge, wohin Sie ihr nur folgen könnten, wenn Sie sich eine Kugel in den Kopf jagen oder sich aufhängen oder in der geschlossenen Garage in Ihren Wagen setzen und den Motor laufen lassen? Ich habe es getan, weil ich eine Frau über alles geliebt habe«, sagte Ross. »Nicht obwohl.«

Er stand abrupt auf, und das grelle Sonnenlicht blendete Eli. »Ich seh mal nach, wo sie bleibt«, knurrte Ross und ging ins Gebäude.

Eli legte den Kopf auf die Knie. Er war Polizist und hatte Selbstmord immer als Flucht gesehen – nicht als Zuflucht. Er dachte an Shelby und daran, wie sie auf das Foto der erhängten Lia Pike gestarrt hatte. Sieht man wirklich so aus, wenn man sich aufgehängt hat?

Elis Mund wurde trocken. Er stand gerade auf, als Ross aus dem Gebäude gestürzt kam. »Meredith«, sagte er. »Sie ist weg.«

Meredith saß im Bus von Montpelier nach Comtosook und hatte nur diesen einen Gedanken: Ruby war nicht ihre Großmutter. Ihre Großmutter war 1932 gestorben. Meredith’ Vorfahren stammten nicht aus Akadien und Frankreich, sie hatten immer hier gelebt. Und ihr Großvater war nicht irgendein junger Mann gewesen, der Ruby das Herz gebrochen und schwanger sitzen gelassen hatte – die Lüge, die ihr all die Jahre aufgetischt worden war. Ihr Großvater war Wissenschaftler gewesen, der erforscht hatte, wie sich die Vererbung von Anomalien von einer Generation zur nächsten verhindern ließe.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Vom Busbahnhof in Comtosook war Meredith zu Fuß zu Shelbys Haus gegangen. Und dort hatte sie von Shelby die ganze Wahrheit erfahren – die furchtbaren Folgen der Eugenik-Bewegung ihres Großvaters und dass Spencer Pike noch am Leben war, wenn auch schwer krank, in einem Pflegeheim keine zehn Meilen entfernt. Sie erzählte Meredith alles, was ihr Bruder bequemerweise ausgelassen hatte: Sie erzählte von Cecelia Pikes brutalem Tod, von Gray Wolfs Verschwinden, von Az’ Geständnis in der Woche zuvor.

Jetzt saß sie in Shelbys Auto und sah noch einmal auf die Wegbeschreibung zum Pflegeheim. Es war nicht mehr weit.

Wenn Pike noch am Leben war, verstand sie nicht, wieso Ross und sein Freund von der Polizei ihm nicht eine Blutprobe für den DNA-Test hatten abnehmen lassen – das wäre aus wissenschaftlicher Sicht einfacher gewesen. War es ihnen darum gegangen, dass sie Az Thompson kennenlernte, dessen Opfer so viel größer gewesen war, als Meredith’ es je sein könnte? Oder lag es daran, dass niemand einen Mann ansehen wollte, der so viel Schaden angerichtet hatte wie Spencer Pike?

Das Pflegeheim war ein hochherrschaftliches Haus im Kolonialstil, von Eichen umstanden und gesäumt von gepflasterten Wegen. Meredith ging die Treppe hinauf in die Eingangshalle. Trotz der freundlichen und hellen Atmosphäre lag ein Geruch in der Luft, der aus den Fugen zwischen den Bodenfliesen zu dringen schien. Es roch nicht nach Tod, sondern nach Reue – ein süßeres, stechenderes Aroma.

Eine Krankenschwester mit einem Stethoskop um den Hals saß an einem Schreibtisch. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich möchte jemanden besuchen.«

»Zu wem möchten Sie denn?«

»Spencer Pike.«

Die Krankenschwester legte die Stirn in Falten. »Ihm geht es heute gar nicht gut …«

»Ich bin … ich bin eine Verwandte«, sagte Meredith.

Die Schwester nickte, gab ihr einen Passierschein zum Anstecken und beschrieb ihr den Weg.

Die Vorhänge waren zugezogen, alle Lampen ausgeschaltet. Ein Atemgerät röchelte irgendwo links von ihr, und sie konnte nur undeutliche Umrisse erkennen. Sie tastete sich vorsichtig um das Bett herum zum Fenster, wo sie die Vorhänge einen kleinen Spalt öffnete.

Spencer Pike war gebrechlich und haarlos. Das weiße Laken, das ihn bedeckte, betonte seine vorstehenden Knochen. Sie trat ans Bett, rechnete damit, Groll oder Hass oder gar eine traurige Nähe zu empfinden – aber da war absolut nichts. Der Mann vor ihr hätte ein Fremder sein können.

Nicht Blut oder Gene oder das, was durch beides weitergegeben wurde, machte eine Familie aus. Um das zu begreifen, musste man sich nur Meredith und ihre Mutter und Ruby ansehen. Oder eben Spencer Pike, der hier einsam und verlassen starb.

Er drehte sich in seinem Morphiumschlaf auf den Rücken, blieb mit dem Arm an einem durchsichtigen Schlauch hängen, der vom Oberkörper zu seinem Gesicht führte. Er erdrosselt sich noch selbst, dachte Meredith, und gleich darauf: Wäre das so schlimm? Doch dann griff sie nach dem Schlauch und behob die Gefahr.

Seine Hand hob sich langsam und umklammerte ihr Handgelenk. Als Meredith nach unten blickte, sah sie, dass er wach war und weinte. Er wollte etwas sagen, aber seine Worte waren wegen der Sauerstoffmaske nicht zu verstehen. Sie zögerte, zog ihm dann die Maske ein Stück herunter.

»Es tut mir leid«, sagte Spencer Pike. »Es tut mir so leid.«

Meredith erstarrte. »Schon gut«, murmelte sie und wollte zurückweichen.

»Nicht gehen. Bitte noch nicht.«

Sie schluckte, nickte dann. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich an das Bett ihres Großvaters.

Seine Atmung wurde unregelmäßiger, und eine Schmerzwelle spülte über sein Gesicht. »Cissy«, sagte Spencer Pike, »wirst du auf mich warten?«

Cissy. Cecelia. Sie sehen einer Frau ähnlich, die ich mal gekannt habe. Meredith hatte das Naheliegende vergessen – wenn sie wirklich so große Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Großmutter hatte, dann würde das diesem Mann natürlich erst recht auffallen.

»Ja, Spencer«, erwiderte sie ruhig. »Solange es dauert.«

Kurz darauf fiel er in einen unruhigen Schlaf. Meredith hielt ihr Versprechen. Sie saß am Bett ihres Großvaters, während seine Lunge röchelte und pumpte. Sie saß bei ihm, bis die Symphonie der Apparate zu einer einzigen Note in ihrem Kopf wurde. Sie saß bei ihm, bis die Krankenschwestern kamen, um Spencer Pike seine nächste Dosis Morphium zu verabreichen, bis sie nach einer Weile wiederkamen und Meredith davon überzeugt hatten, dass sie jetzt ruhig gehen könne, weil er gestorben war.

Eli tigerte schon vor der Tür auf und ab, als Tuck Boorhies eintraf, und scheuchte ihn gleich in sein Fotolabor. Tuck sollte schon wieder eines der Tatortfotos von dem lange zurückliegenden Mordfall vergrößern. Diesmal jedoch ging es um einen Ausschnitt, auf dem der Boden zu sehen war. Tuck hatte den Kontrast noch ein bisschen bearbeitet, und siehe da, in dem feuchten Sägemehl waren Fußspuren zu sehen, die offenbar zu anderen Spuren passten: Fußabdrücke einer Frau. Aber noch interessanter war die lange Schleifspur im Sägemehl.

Jetzt blickte er von dem Hocker auf, auf dem er saß, in der Hand eine Polaroidkamera. »Was machen wir jetzt noch mal?«, fragte er Eli, der dabei war, eine Mülltüte an einem Haken an der Decke zu befestigen. In der Tüte waren rund drei achtelliter Wasser. Auf dem Boden hatte Eli Sägemehl verteilt.

»Laut Wesley Sneap fasst die menschliche Blase höchstens rund vierhundert Milliliter«, sagte Eli.

»Was wichtig ist, weil …« Tuck zog eine Augenbraue hoch.

»Hilf mir mal, ja?« Eli kletterte auf einen Hocker und signalisierte Tuck, die Tüte mit dem Wasser etwas anzuheben, während er einen stabilen Knoten an dem Haken darüber machte. »Er hat gesagt, dass im Augenblick des Todes die Schließmuskelnerven von Anus und Blase nicht mehr stimuliert werden und es zu Inkontinenz kommt.«