Выбрать главу

»Gut zu wissen.«

Eli verteilte das Sägemehl mit dem Fuß unter der Abfalltüte und trat dann zurück. »Okay, Tuck«, sagte er. »Stich meine Blase an.«

»Was soll ich?«

»Meine Blase anstechen.« Eli zeigte auf die Tüte.

»Wie du willst«, murmelte Tuck und piekste mit seinem Stift in die Tüte.

Beide schauten sie zu, wie der dünne Strahl das Sägemehl benetzte. Er rieselte auf ihre Fußabdrücke, verwischte die Ränder. Als die Tüte leer war, hatte der nasse Fleck auf dem Sägemehl etwa die Größe eines Kanaldeckels. »Davon möchte ich eine Aufnahme, Tuck«, sagte Eli und ging aus dem Labor.

Als die Polaroidkamera das Foto ausspuckte, kam Eli wieder herein, eine Holzkiste in den Händen. »Und?«

»Sieht aus wie eine Pfütze. Was hast du sonst erwartet?«

Eli nahm Tuck das Foto aus der Hand und sah es sich an, legte es dann neben die Vergrößerung, die Tuck zuvor gemacht hatte. »Täusch ich mich, oder sind die beiden Pfützen völlig verschieden?«

Sie konnten verschiedener nicht sein. Der dunkle Fleck nassen Sägemehls auf dem Polaroidfoto war nur halb so groß wie der auf dem Schwarz-Weiß-Abzug. Doch noch ehe Tuck antworten konnte, öffnete Eli die Holzkiste und hob einen sechzig mal dreißig Zentimeter großen Eisblock heraus. Er setzte ihn auf dem Sägemehl ab, stellte ihn hochkant und schob ihn mitten in die Pfütze, was eine lange Schleifspur hinterließ, ähnlich wie die auf dem Foto. Dann zog er einen Hocker neben den von Tuck und holte ein zusammengefaltetes Kreuzworträtsel hervor.

»Was hast du vor?«, fragte Tuck.

»Kreuzworträtsel lösen.«

»Nein, mit dem Eisblock da.«

Eli folgte seinem Blick. »Abwarten«, erwiderte er.

Ethan band sich gerade die Turnschuhe zu, als er den Schrei hörte. Er lief über den Flur zu dem Zimmer, wo Lucy und ihre Mutter schliefen, und stieß die Tür auf.

Lucy saß aufrecht im Bett und zitterte wie verrückt. »Lucy?«, sagte Ethan und ging vorsichtig näher. »Was ist denn?« Er sah sich im Zimmer um. Ihre Mutter war nicht da. Na ja, es war erst Mitternacht. Sie hatte vielleicht noch keine Lust gehabt, ins Bett zu gehen. »Kannst du atmen?«

Sie nickte, und ihre Hände, die krampfhaft die Decke festhielten, entspannten sich. »Hab ich dich geweckt?«

»Nein, ich wollte gerade nach draußen.« Ethan scharrte mit einem Schuh über den Teppich. »Wo ist deine Mom?«

Sie blickte sich um, als würde sie jetzt erst merken, dass ihre Mutter nicht da war. »Keine Ahnung. Deine Mutter hat mich ins Bett gebracht.«

Ethan grinste. »Mütter sind doch alle gleich.«

Sie lächelte, aber nur ein bisschen. Ethan überlegte, was seine Mutter immer für ihn tat, wenn er mal Albträume hatte. »Milch«, sagte er. »Soll ich dir ein Glas Milch holen? Das hilft angeblich, wieder einzuschlafen. Sagt meine Mutter immer, wenn ich Panik kriege.«

»Ich wette, du kriegst nie Panik.«

»Klar doch. Jeder hat mal Albträume.«

»Was träumst du denn dann so?«

»Dass ich in der Sonne bin und nicht wegkann«, sagte Ethan ausdruckslos. »Und du?«

»Von Geistern«, flüsterte Lucy.

»Also, ich hab keine Angst vor Geistern.«

»Ich hab keine Angst vor der Sonne«, erwiderte Lucy.

Er hätte ihr nichts verschweigen dürfen. Ross machte sich Vorwürfe, denn er war sicher, dass er für Meredith’ Verschwinden verantwortlich war. Sie war jetzt schon seit Stunden weg, hatte nicht einmal angerufen, um sich nach Lucy zu erkundigen. Vielleicht brauchte sie einfach Zeit, um nachzudenken.

Vielleicht wollte sie gar nicht nachdenken.

Ross stieß den Kopf gegen den Stamm des Baumes, an dem er lehnte. Wie gern hätte er jetzt fünf Minuten in der Vergangenheit. Fünf Minuten, um mit Meredith Oliver zu sprechen und ihr zu sagen, dass er das Gefühl kannte, aufzuwachen und zu erkennen, dass das eigene Leben doch ganz anders war, als man bis dahin geglaubt hatte.

Bedauern gehörte zum Leben dazu, wie eine Reißleine, die einen daran erinnerte, dass man nicht immer bekommt, was man will. Wie er, der er Aimee überlebt hatte. Oder Az, der seine Tochter suchte und fand und sie dann gleich wieder verlor. Oder Shelby, die ein Kind hatte, das allmählich starb. Ethan, in einen Körper hineingeboren, den niemand verdiente. Irgendwann wurde jeder von dieser Welt verraten.

So gesehen fühlte sich Ross nicht ganz so allein. Wer im Strudel der Trauer um das, was hätte sein können, gefangen war, kam aus eigener Kraft vielleicht nicht mehr heraus – aber er konnte gerettet werden, wenn ein anderer ihm die Hand reichte.

Vielleicht war er deshalb nach Maryland gefahren, um Meredith zu suchen.

Helden sprangen nicht von einem Hochhaus zum nächsten und hielten auch keine Gewehrkugeln mit der bloßen Hand auf. Sie trugen keine Stiefel und Umhänge. Sie bluteten und holten sich blaue Flecken, und ihre übermenschlichen Kräfte zeigten sich in der einfachen Fähigkeit, zuzuhören oder zu lieben. Helden waren normale Menschen, die wussten, dass sie, auch wenn ihr eigenes Leben schier unlösbar verknotet schien, das eines anderen zum Besseren wenden konnten. Und vielleicht war dann ja auch ein anderer in der Lage, ihnen zu helfen.

Ross schloss die Augen und lächelte, doch das Weinen eines Babys lenkte ihn ab. Vielleicht war es auch etwas anderes, irgendein Tierlaut. Aber dann ertönte es erneut: dünn, verzweifelt, menschlich. Er trat hinaus auf die Lichtung und sah Meredith auf dem Boden kauern.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte er, und als sie aufstand – Hände und Fingernägel dunkel vor Erde –, sah Ross, dass es gar nicht Meredith war.

Wer ruft mich? Ich blicke auf und sehe mich um, besorgt, dass man mich bereits entdeckt hat. Aber es ist niemand da, nur mein eigenes Misstrauen, das mir so ausladend und dick vorkommt wie diese alten Eichen. Ich bücke mich und ziehe noch mehr Gestrüpp und Dickicht beiseite, suche. Wo hat er sie versteckt, wo kann sie sein?

Ich habe einen Schrei gehört, ich weiß es genau. Einmal war im Klifa Club ein Vortrag, von einem afrikanischen Dschungelzoologen, der gekommen war, um Spencer kennenzulernen. Der Zoologe sagte, dass Mütter in der Natur ihren Nachwuchs an den Lauten erkennen. Der Fötus hört eine Stimme im Mutterleib, und wenn das Baby zur Welt kommt, ist es in der Lage, seine Mutter überall herauszuhören.

Meine Hände bluten. Ich habe unter jedem Stein nachgeschaut, hinter jedem Baum. Dann höre ich sie wieder, wie sie mich leise ruft.

Diesmal konzentrieren sich alle meine Sinne, und auf einmal stehe ich, drehe mich um und gehe zum Eishaus. Ich stoße die Tür auf, schlurfe durch das Sägemehl. Und sehe sie.

Ihre Wimpern sind so lang wie der Nagel meines kleinen Fingers. Ihre Wangen sind milchig blau.

Lily. Lily Delacour Pike.

Selbst nachdem ich sie wieder in die Kiste gelegt habe, spüre ich noch ihr regloses Gewicht in meinen Armen. Irgendwas wird immer fehlen.

Er wird mir niemals glauben, er wird es niemals verstehen. Der einzige Weg, ihm zu zeigen, was er getan hat, ist der, ihm das Gleiche anzutun. Ihm das zu nehmen, was er auf der Welt am meisten liebt.

Einer von den Eisblöcken ist dünner als die anderen. Ich kann ihn anheben und nach draußen ziehen. Ich lege mir zuerst das Seil um den Hals und mache einen Knoten. Dann stelle ich mich auf den Eisblock und befestige das andere Ende des Seils am Balken. Warte auf mich, denke ich und springe meinem Baby hinterher.

Der Schmerz ist größer, als ich dachte, als das Gewicht meines Lebens von der Schwerkraft nach unten gezogen wird. Meine Lungen sind kurz vor dem Zerreißen, die Welt wird allmählich schwarz.