Aber plötzlich schreit sie. Und schreit. Durch das Fenster vom Eishaus, während ich an dem Seil hänge, sehe ich, wie sie mit ihren winzigen Fäusten rudert. Sie ist zu mir zurückgekommen, doch ich bin bereits fort.
Lily, schreie ich im Kopf, und ich versuche, das Seil zu packen, es vom Balken loszureißen. Aber ich habe zu gute Arbeit geleistet. Lily. Ich trete mit den Füßen nach den Stützpfosten, nach allem. Ich kratze, komme aber nur bis zur Brust, höher schaffen es meine Arme einfach nicht.
Oh Gott, ich kann sie nicht zweimal verlieren.
Sie wird meine Stimme hören, obwohl ich nicht laut rufen kann. Sie wird über eine Wüste hinweg zu mir finden, sie wird im tiefsten Meer zu mir schwimmen.
Ich gebe meinem Baby das Versprechen, das mein Vater mir gegeben hat, bevor er mich überhaupt kennenlernen konnte: Ich werde dich finden.
Als sie vor seinen Augen wieder verschwand, merkte Ross, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.
Lias Geist war noch einmal zurückgekehrt, um etwas zu suchen.
Aber sie hatte nicht nach dem Baby gesucht und auch nicht nach Ross. Erst als sich die Vision aufgelöst hatte, wusste er, warum sie wiedergekommen war: Auf der anderen Seite der Lichtung stand Meredith Oliver, das Gesicht starr vor Entsetzen und Fassungslosigkeit, denn auch sie hatte alles gesehen und gehört, was Lia zu sagen hatte.
ZWÖLF
Meredith saß lange schweigend da, während die Nacht immer engere Kreise um sie zog. Ihr Inneres fühlte sich flüssig an, und Meredith wusste, dass sie in nächster Zeit nicht in der Lage sein würde, sich zu bewegen, zu denken.
Geisterhaft.
Konnte einen der Wahnsinn so schnell befallen wie die Grippe? Ihr Verstand war nicht in der Lage, das Gesehene zu verarbeiten. Es war, als hätte man ihr gesagt, dass die Sonne nicht mehr aufgehen würde.
Aber sie war nicht Zeugin eines billigen Taschenspielertricks geworden, war nicht dem Geschwafel eines Verrückten aufgesessen. Mit eigenen Augen hatte sie einen Geist gesehen. Eine Frau, die genauso schnell wieder verschwunden war, wie sie gekommen war. Eine Frau, die genauso aussah wie Meredith.
Sie musste daran denken, wie oft sie Lucy gegenüber beteuert hatte, dass es keine Geister gab. Nun erschien ihr alles fragwürdig, woran sie je geglaubt hatte, denn wenn sie sich in dem Punkt geirrt hatte, was war dann noch alles ein einziger Irrtum? Es gab nur eines, dessen sie sich sicher sein konnte: Die Welt, in der sie heute Morgen erwacht war, war eine völlig andere gewesen als die, in der sie sich jetzt befand.
Sie merkte, dass sie sich vorbeugte und den Boden berührte, unsicher, ob auch der vielleicht nicht so fest war, wie sie glaubte. Sie fröstelte erneut und spürte, wie etwas auf ihre Schultern gelegt wurde. Bis zu diesem Augenblick, als Ross ihr seine Jacke umlegte, hatte sie gar nicht richtig registriert, dass jemand neben ihr saß.
Sie wandte sich um. »Ist das … ist das wirklich passiert?«
»Ich glaube, ja.« Ross wirkte genauso mitgenommen wie sie. Meredith betrachtete ihn genauer. Sie hatte ihm nicht wirklich geglaubt – seine Geschichten über Geisterjagd, über ihre Großmutter.
»Sie sah aus wie ich.«
»Ich weiß.«
»Aber … aber …« Es gab keine Worte für diese fremde Welt.
Sie spürte, wie Ross ihre Hand nahm, wie sein langes Haar über ihre Wange strich, als er sich zu ihr beugte. Er weinte. »Ich weiß«, wiederholte er, dabei wollte er doch in Wirklichkeit sagen, dass er gar nichts mehr wusste.
Sie hatte nicht daran geglaubt, dass es Geister gab, wohl aber daran, dass es Schmerz gab. Und sie wusste nur allzu gut, was für ein Gefühl es war, sich allein zu fühlen, wenn man nicht allein sein wollte. Diese Emotionen waren so wirklich, dass sie ihr einen Halt lieferten, an den sie sich klammern konnte. Meredith’ Gedanken trudelten zurück zu der verzweifelten Suche, der Angst, dem Selbstmord. »Ist es so gewesen?«, fragte sie. »Hat sie … sich umgebracht?«
»Ich glaube, ja.« Ross’ Stimme klang vor Trauer ganz wund.
»Können wir denn gar nichts tun?«
»Es ist schon geschehen«, sagte Ross. »Sie ist nicht mehr da.«
Der Geist hatte Meredith direkt angestarrt. Und es war wie ein Blick in den Spiegel gewesen – nicht bloß wegen der physischen Ähnlichkeit, sondern weil der Ausdruck in Lia Pikes Augen genau der war, den Meredith sah, wenn sie sich selbst betrachtete. Meredith verstand zwar nicht recht, dass die Grenze zwischen Leben und Tod mit unsichtbarer Tinte gezogen war, aber sie wusste, wie sich eine Mutter fühlte, die nichts anderes wollte, als ihr Kind zu schützen.
Mutterschaft berührte den Wesenskern. Du konntest ein Kind in dir spüren, auch wenn du es schon geboren hattest; es war so lange Fleisch deines Fleisches gewesen, dass es ein Teil von dir geworden war. Und wenn dieses Kind starb – als Embryo, als Neugeborenes, mit dreizehn Jahren an XP –, dann musste auch ein Teil von dir sterben. Lia hatte den Prozess nur beschleunigt, nachdem sie in das erkaltete Gesicht ihres Babys geschaut hatte.
»Sie ist ihrer Tochter gefolgt«, sagte Meredith und wandte sich Ross zu. »Glauben Sie, dass sie sich am Ende finden?«
Er antwortete nicht, konnte nicht antworten. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und er schluchzte haltlos. Sein Kummer brach tief und dunkel wie eine Quelle aus ihm hervor, ein Kummer, den Meredith kurz zuvor auf Lia Pikes Gesicht gesehen hatte, als sie glaubte, sie hätte ihre Tochter wirklich verloren.
»Ross«, sagte sie, und in diesem Moment fiel ihr etwas ein, das er einmal zu ihr gesagt hatte und von dem sie jetzt wusste, dass es die Wahrheit war: Man konnte jemanden lieben, der nicht real war. Fürsorglich berührte sie seinen Arm, wollte ihm zeigen, dass sie dieses Mal da sein würde, um ihn zu halten, falls er fiel. Aber er schüttelte sie ab, und dabei drehte er ein wenig den Unterarm, sodass sie die Narbe an seinem Handgelenk sehen konnte, ein Blitzstrahl, wo die Haut hätte ganz glatt sein müssen.
»Sie werden einander finden«, sagte er und wandte den Blick von ihr ab. »Bestimmt.«
»Das Baby war nicht tot«, erklärte Eli, »aber sie hielt es für tot, und deshalb hat sie sich aufgehängt.« Er ging durch Shelbys Küche und goß sich ein Glas Wasser ein, während er ihr erzählte, was er herausgefunden hatte. »Sie hat einen großen Block Eis durch das Sägemehl bis unter das Vordach geschleift, um sich draufzustellen, damit sie an den Dachbalken kam. Aber als Pike sie dann am Morgen fand, war das Eis geschmolzen, und es sah eher nach Mord als nach Selbstmord aus. Nach siebzig Jahren hab ich den Fall jetzt offiziell abgeschlossen.« Er schüttelte den Kopf. »Mag ja sein, dass wir ein bisschen langsam sind, aber es soll bloß keiner behaupten, die Detectives von Comtosook würden voreilig aufgeben.«
Shelby saß am Küchentisch, und als er an ihr vorbeiging, berührte er ihre Schulter. »Und das ist noch nicht alles«, sagte Eli und setzte sich ihr gegenüber. »Spencer Pike ist letzte Nacht gestorben.«
Er redete weiter, doch Shelby bekam nichts mehr mit. Sie konzentrierte sich auf das Gefühl in ihrer Schulter, nachdem Elis Hand heruntergeglitten war, als würde ihr dort jetzt etwas fehlen.
Plötzlich konnte Shelby sich gar nicht mehr vorstellen, dass es mal eine Zeit gegeben hatte, in der sie Eli Rochert nicht gekannt hatte. Er hatte sich auf jede vorangegangene Seite ihres Lebens eingeprägt, und erst jetzt merkte sie, wie groß die Lücken gewesen waren.
Meine Güte, dachte sie, ich liebe ihn.