Für Shelby war Liebe so etwas wie eine Sonnenfinsternis – atemberaubend schön, faszinierend und fähig, dich blind zu machen. Sie war nicht direkt davor geflohen, aber sie hatte sie auch nicht gesucht.
Sie war schon einmal verliebt gewesen, in ihren Exmann – sie kannte das Gefühl, beim Klang einer Männerstimme am Telefon Herzklopfen zu bekommen und beim Küssen zu spüren, wie die Welt aufhörte, sich zu drehen. Aber diese Beziehung war gescheitert, wie eigentlich jede andere Beziehung, von der sie wusste. Liebe bedeutete, aus großer Höhe zu springen und darauf zu vertrauen, dass ein anderer Mensch da war, um dich aufzufangen. In ihrem Fall jedoch war dieser Mensch weggelaufen, bevor sie unten ankam. Und sie war sich nicht sicher, ob sie noch einmal springen wollte.
» … und wenn man es mal so betrachtet … Shelby, hallo, alles in Ordnung?« Eli drückte ihre Hand, und sie fuhr zusammen. Sofort wich er zurück. »Stimmt was nicht?«
Und ob, dachte sie. »Wenn ich todkrank wäre, würdest du mir eine Niere spenden?«
Eli blickte verblüfft. »Eine von meinen?«
»An andere kämst du ja wohl kaum ran, oder?« Sie fixierte ihn. »Und?«
»Ich … ich … doch. Ja, würde ich.«
Stöhnend legte Shelby die Hände vors Gesicht.
»War das die falsche Antwort?«, fragte Eli verunsichert.
Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich möchte dich lieben, Eli. Aber gleichzeitig auch wieder nicht. Wenn ich mit dir zusammen bin, kommt es mir vor, als hätte sich in meinem Leben bisher nichts so richtig angefühlt wie jetzt. Aber wenn ich das zugebe, dann kann es doch nur noch bergab gehen. Sieh dir an, was die Liebe mit meinem Bruder gemacht hat. Oder mit Gray Wolf. Oder auch mit Lia Pike. Oder … was ist denn daran so lustig?«
Eli saß am Tisch und strahlte übers ganze Gesicht. Er nahm erneut ihre Hand, und als sie sie diesmal wegziehen wollte, hielt er sie fest. »Liebe«, wiederholte er, als wäre das alles, was er hören müsste. »Du hast Liebe gesagt.«
Lucys und Ethans Versteck – unter der Plastikplane, die über die Gartenmöbel gespannt war – war schon ganz verqualmt, aber das war es wert. Es war Ethans erste Blutsbrüderschaft, und er wollte alles richtig machen.
Er hielt die Klinge seines Schweizer Messers in die Kerzenflamme. »Fertig?«, fragte Lucy.
Es hatte sich herausgestellt, dass Lucy bloß knapp ein Jahr jünger war als er, aber das hätte er nie im Leben gedacht. Lucy bekam es schon mit der Angst, wenn sie eine Schnake sah. Manchmal war sie so still, dass Ethan völlig vergaß, dass sie neben ihm saß. Sie konnte sich nicht mal aufs Skateboard stellen, ohne hinzufallen.
Aber sie war klug, und sie roch nach Kuchen. Und weil sie den ganzen Sommer lang bei der Ferienfreizeit mitgemacht hatte, war ihre Haut wunderschön braun.
Sie erzählte Ethan, wie schön es war, zu einem Holzdeck auf einem See hinauszuschwimmen und dort in der Sonne einzuschlafen. Er erzählte ihr, wie sich ihm die Nackenhaare gesträubt hatten, als der Geist seinem Onkel aus dem alten Spukhaus nach draußen gefolgt war. Sie gab zu, dass sie sich manchmal unter der Decke verkroch und so tat, als wäre sie nicht da, wenn die Geister kamen. Er erzählte ihr, dass die Flüssigkeit, mit der der Hautarzt ihm die Wucherungen auf der Haut wegfror, wie Feuer brannte.
»Nun mach schon, Ethan«, sagte Lucy. »Ich krieg bald keine Luft mehr.«
»Okay.« Ethan hielt die Taschenlampe über das Messer, ließ die Taschenlampe fallen und dann das Messer. »Mist. Halt mal.« Er gab Lucy die Lampe und wischte die Klinge ab, hielt sie dann noch einmal in die Flamme. Als er aufblickte, sah Lucy ganz blass aus. »Du kippst mir doch hier nicht aus den Latschen, oder?«
Mit finsterer Miene streckte sie ihm ihr Handgelenk hin.
Ethan hielt seines direkt daneben. »Ich werde dir helfen, einen Geist zu finden, bevor er dich findet«, sagte er.
Sie starrte ihm in die Augen. »Ich bringe dich dahin, wo die Sonne aufgeht.«
»Tapferkeit«, sagte Ethan, und dann zog er die Klinge so schnell wie ein Aufkeuchen über beide Handgelenke. Sie legten die offenen Wunden aufeinander.
Lucy hielt den Atem an. »Tapferkeit.« Dann warteten sie und hofften, dass ihr Mut sie genauso fest aneinanderbinden würde wie Blut.
Az wurde vom Gesang der Vögel wach. Einen Moment lang blieb er auf seiner Pritsche liegen und versuchte, das Klagen des Schneefinks, das Trillern des Ziegenmelkers und die kehlige Altstimme des Seetauchers herauszuhören. Es war Wochen her, dass er ein solches Konzert gehört hatte. Das letzte Mal an dem Morgen, als er den anderen Abenaki von dem Friedhof erzählt hatte und dann mit ihnen auf das Pike-Grundstück gezogen war, um friedlich zu protestieren.
Er setzte sich langsam auf, spürte das Knarren und Knacken jedes einzelnen Wirbels. Er schwang die Füße über den Pritschenrand und stellte sie auf die festgetretene Erde des Zeltbodens.
Sie war warm, wie sich das im August gehörte. Nicht gefroren, wie bisher.
Az öffnete das Zelt und trat nach draußen. Die Welt schien wieder im Lot zu sein. Az pflückte eine Blüte von der Geißblattranke, die neben dem Zelt wuchs, und sah den Nektartropfen darin. Er saugte ihn auf und schmeckte Zucker statt Tränen.
Az blieb ganz ruhig stehen, und er spürte nicht mehr diesen pochenden Druck hinten im Kopf, wie einen Hammer. Er schloss die Augen und wusste sofort, wo der echte Norden lag.
Er machte Kaffee, wusch sich die Hände und das Gesicht und kleidete sich sorgfältig an. Er machte an diesem Morgen alles genauso wie in der ganzen Zeit, in der Comtosook verwunschen gewesen war. Az hatte gewusst, dass irgendwann alles wieder zur alten Ordnung zurückkehren würde.
Wäre er ein Zauberer gewesen, hätte Ross seiner Schwester Stärke hinterlassen. Keine Muskelkraft, sondern Durchhaltevermögen, denn nur damit kam man durchs Leben. Er musste es ja wissen, denn genau daran fehlte es bei ihm. Und so ging er nun die spärlichen Habseligkeiten in seiner Reisetasche durch. Sein weiches Shirt sollte Shelby bekommen, weil es nach ihm roch, denn er wusste, dass sie für alles dankbar wäre, womit sie die Erinnerung an ihn bewahren konnte. Seine Uhr sollte Ethan haben, anstatt der Zeit, die Ross ihm so gern geschenkt hätte. Die Pennys von 1932 würde er mitnehmen, um damit eine Spur durch die Ewigkeit zu legen, sodass Lia ihn finden konnte, nur für alle Fälle.
Was für ein Mann kann fünfunddreißig Jahre auf dieser Erde verbringen und am Ende nur so viel sein Eigen nennen, wie in eine schlichte Reisetasche passt?, fragte Ross sich. Und er dachte: Einer, der von vornherein nicht lange bleiben wollte.
Nach der Begegnung mit Lias Geist hatte er Meredith nach Hause gebracht. Er hatte gehört, wie sie Ruby anrief, sie um fünf Uhr morgens weckte, um ihr noch immer ganz verdattert zu erzählen, was sie gesehen hatte. Sie hatte gesagt, sie würde in ein paar Tagen zurück nach Maryland fahren, doch vorher müsse sie sich hier noch um ein paar Dinge kümmern. Ross wusste nicht, ob Meredith ihm jetzt glaubte, was er ihr über Geister erzählt hatte, und es war ihm eigentlich auch egal. Ihm war Lia wichtig, und sie würde nicht zurückkehren. Er wusste das genauso, wie er wusste, dass jeder Atemzug nach Teer schmeckte, dass von nun an jeder Tag schmerzen würde wie ein Messerstich. Er war müde, so gottverdammt müde, und er wollte nur noch eines, schlafen.
Ross ging weiter den Inhalt der Tasche durch. Ein Rasierer, der seinem Vater gehört hatte, der war für Shelby. Sein EMF-Messgerät – natürlich für Ethan. Er zog das alte Geisterfoto heraus, das er mit Curtis an einem See gemacht hatte, und lächelte. Vielleicht würde er es Meredith schenken.
Er würde keinen Abschiedsbrief hinterlassen, so viel war klar. Systematisch zerriss er jedes Stück Papier auf dem Schreibtisch in kleine Schnipsel und warf sie wie Konfetti in den Mülleimer.