»Verlass dich drauf«, sagte Az.
»Und es macht dir wirklich nichts aus?«, fragte Shelby zum zehnten Mal. Sie betrachtete Meredith’ Bild im Spiegel, während sie sich ein Medaillon um den Hals legte.
»Wieso denn? Die Kinder passen aufeinander auf. Ich werde mich auf die Couch setzen, Pralinen essen und mir Liebesfilme angucken.«
Es war etwas ganz Neues für Shelby – sie war zu einer normalen Zeit mit einem normalen Mann zum Abendessen verabredet. »Aber du musst doch bestimmt packen, weil ihr morgen zurückfliegt. Also bist du vom Dienst befreit, sobald Ross nach Hause kommt.«
Er war unterwegs, um Geräte zu holen, die er auf dem Pike-Grundstück gelassen hatte. Warum er das ausgerechnet im Dunkeln machen musste, abends um halb neun, war Meredith allerdings schleierhaft. »Weißt du, wohin Eli dich einladen will?«
»Irgendein schickes Restaurant in Burlington.« Sie ließ sich neben Meredith aufs Bett fallen. »Ich habe mich schon so oft mit ihm getroffen«, sagte sie leise. »Wieso bin ich jetzt bloß so aufgeregt?«
»Weil du verrückt nach ihm bist«, sagte Meredith. »Das kommt vom Dopamin, das in deinem Gehirn produziert wird.«
»Warum müsst ihr Wissenschaftler sogar die Liebe auf eine chemische Reaktion reduzieren?«
»Weil es für diejenigen unter uns, die nicht gerade mit Liebe verwöhnt werden, so leichter ist.«
Shelby drehte sich auf den Bauch. »Wer ist Lucys Vater?«
»Ein Mann, der es nicht hätte sein sollen«, entgegnete Meredith. »Und Ethans Vater?«
»Anscheinend der Bruder von Lucys Vater.« Shelby stützte das Kinn in die Hände. »Hast du ihn geliebt?«
»Sehr.«
»Genau wie ich.« Sie sah Meredith an. »Manchmal tu ich so, als wäre ich Eli nicht begegnet. Oder als wäre er nicht mein letzter Gedanke, bevor ich abends einschlafe. Das ist wie eine Art Aberglaube, verstehst du – wenn mir eine Beziehung nicht ganz so wichtig ist, wird sie mir vielleicht nicht wieder weggerissen.«
»Die hier zieht dir keiner mehr unter den Füßen weg«, stellte Meredith fest. »Beziehungen gelingen und scheitern wegen der Menschen, die sie führen … nicht wegen irgendeines kosmischen Plans.«
Shelby schüttelte den Kopf. »Da setzt ja dann das Schicksal ein. Wenn ich nicht Ethan bekommen hätte, dann hätte ich mich nicht von Thomas scheiden lassen. Wenn Ethan nicht XP hätte, wäre ich nicht in diese Stadt gezogen, wo die Häuser so weit voneinander entfernt stehen, dass er nachts spielen kann. Wenn Ross nicht so verzweifelt gewesen wäre, wäre er nicht hergekommen und hätte nicht die Untersuchungen auf dem Pike-Grundstück machen können. All diese Dinge, die furchtbar waren, als sie passierten, haben vielleicht nur dazu geführt, dass ich Eli begegnet bin.«
»Ach, weißt du«, sagte Meredith, »das Schicksal haben die Menschen erfunden, um sich Dinge erklären zu können, die sie nicht verstehen. Zehn Jahre habe ich nach einem Mann gesucht, der, wenn er einen Raum betritt, sofort weiß, wo ich bin, ohne hinsehen zu müssen. Aber ohne Erfolg. Ich kann mir die Wahrheit eingestehen, dass ich nämlich ein unglückliches Händchen habe, wenn es um Liebe geht, oder ich kann mir einreden, dass mir meine verwandte Seele einfach noch nicht über den Weg gelaufen ist. Und es ist immer leichter, ein Opfer zu sein als eine Versagerin.«
Shelby setzte sich auf. »Aber was genau sorgt denn dafür, dass du dich von einem ganz bestimmten Mann angezogen fühlst?«
»Liebe«, sagte Meredith. »Liebe trotzt jeder Erklärung. Aber nicht das Schicksal.« Sie dachte daran, wie Lia auf der Lichtung erschienen war. »Es gibt Dinge, die du nicht erklären kannst und die trotzdem passieren. Aber entscheidend ist, wenn es geschieht, dann weil ich nach dem Mann gesucht und ihn gefunden habe. Nicht weil wir füreinander bestimmt waren.«
»Meredith! Du bist ja eine heimliche Romantikerin!«
Es klingelte an der Tür. Shelby sprang vom Bett und schob rasch die Füße in zwei unterschiedliche Schuhe. »Welche, flach oder verführerisch hochhackig?«
»Wenn es Schicksal ist«, lächelte Meredith, »müsste das eigentlich egal sein.«
Shelby lachte und nahm die Hochhackigen. Nach einem letzten Blick in den Spiegel eilte sie mit Meredith im Schlepptau nach unten und öffnete die Tür.
Eli hatte eine pinkfarbene Rose in der Hand. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, ein blütenweißes Hemd und eine weinrote Krawatte. »Mannomann«, sagte Shelby.
»Du bist … du bist …« Eli schüttelte den Kopf. »Ich hab mir so viele schöne Wörter überlegt, und jetzt fällt mir kein einziges mehr ein.«
»Das liegt am Dopamin«, sagte Shelby mitfühlend.
»Bezaubernd?«, schlug Meredith vor. »Entzückend? Betörend?«
»Nein«, sagte Eli schließlich. »Die Meine.«
Az nahm noch einen Schluck von dem Whiskey, den Ross mit zum Steinbruch gebracht hatte. Sie saßen nebeneinander auf Klappstühlen, tranken und betrachteten den Himmel. »Du weißt ja, dass ich dich eigentlich wegschicken müsste«, sagte er.
»Dann tu’s doch.«
Az zuckte die Achseln. »Wegen des Dynamits. Im ganzen Steinbruch sind Sprengladungen verteilt. Im Morgengrauen werden die per Computer gezündet. Er schielte zu Ross hinüber. »Also mach keine Dummheiten, ja?«
»Dummheiten«, wiederholte Ross gemächlich. »Was wäre denn eine Dummheit? Zum Beispiel sich nicht bloß nach einer, sondern gleich nach zwei toten Frauen zu sehnen?«
»He.« Az streckte die Hand aus. »Gib mal den Whiskey.«
Ross reichte ihm die Flasche, und Az warf sie im hohen Bogen in den Steinbruch hinunter, wo sie zerplatzte.
»Was soll der Quatsch?«
»War nur zu deinem Besten.« Az stand langsam auf, schob sich den Klappstuhl unter den Arm. »Tu mir einen Gefallen, und pass mal ein Weilchen hier auf, ja?«
»Wo willst du denn hin?«
»Zigarettenpause«, sagte Az.
Ross sah ihm nach, wie er am Rand des Steinbruchs entlangging. »Du rauchst doch gar nicht!«, rief er dem alten Mann hinterher.
Ross stand auf, die Hände in den Taschen, und blickte nach unten auf die Scherben seiner Whiskeyflasche. »Scheiße«, sagte er und trat gegen einen Stein, der über den Rand in die Tiefe kollerte. Weil das ein schönes Gefühl war, tat er es noch einmal. Er blickte in den Abgrund, breitete die Arme aus, beugte sich über den Schlund. Als ihm seine Baseballkappe mit dem Bogeyman-Nights-Aufdruck vom Kopf fiel und auf einer Dynamitstange landete, grinste er. Er schaute über die Schulter, sah Az noch immer nicht zurückkommen und zündete sich eine Zigarette an. Er warf sie in den Steinbruch, wo sie fünfzehn Zentimeter von einer anderen Dynamitladung entfernt landete und verglomm.
Er war es satt, sein Leben noch einmal leben zu müssen, wo er doch schon beim ersten Mal nicht sehr begeistert davon gewesen war. Wie Lia war er in seiner eigenen Vergangenheit gefangen. Ross war im selben Augenblick gestorben wie Aimee. Und als er dann endlich jemand anderen gefunden hatte, für den es sich zu leben lohnte, stellte sich heraus, dass sie seit siebzig Jahren tot war.
Er stellte sich vor, wie die Zigarette auf dem Dynamit landete, wie die Explosion die Erde erschütterte und ihn in den Steinbruch schleuderte. Er malte sich aus, wie sein Körper von Flammen umhüllt wurde, Flammen, die seine Kleidung fraßen und ihm den Schmerz abschälten. Warum ich? Wieso war er nicht nur mit einer, sondern gleich mit zwei toten Frauen verbunden? War er eine Art übernatürliches Bindeglied? Eine kosmische Schachfigur? Ein Blitzableiter für verlorene Seelen? Oder war das seine Strafe? Nach Aimees Tod hatte man ihn einen Helden genannt, obwohl Ross wusste, dass er genau das Gegenteil war.
Rod van Vleet vertrank seinen letzten Gehaltsscheck in der einzigen Bar von Comtosook. Oliver Redhook höchstpersönlich hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, dass er gefeuert war und den Firmenwagen und das Firmenhandy bis Montag in der Zentrale in Massachusetts abzugeben habe. »Ich hätte einen dressierten Affen nach Vermont schicken können«, hatte Redhook gesagt. »Aber ich habe den schweren Fehler begangen, Sie auszuwählen.«