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Es war wohl einer zynischen Laune des Schicksals zu verdanken, dass der Barkeeper ausgerechnet einer von den Indianern war, die drei Wochen lang vor seinem Baucontainer getrommelt hatten. Als fairer Gewinner hatte er Rod die ersten drei Drinks spendiert. Jetzt, beim achten, war Rods Feinmotorik so angeschlagen, dass er sein Glas kaum noch heben konnte. Es kam ihm klein und glitschig vor.

»Noch einen«, brachte er hervor.

Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage, Mr. van Vleet. Es sei denn, Sie bestellen sich ein Taxi.«

»Ich bin ein Taxi«, sagte Rod.

Der Barkeeper wechselte einen Blick mit der Frau neben Rod. Sie hatte langes schwarzes Haar und Schultern wie ein Möbelpacker, und beim genaueren Hinsehen entpuppte sie sich als Mann. Rod leerte sein Glas in einem Zug. »Auch gut«, lallte er. »Dann fahr ich jetzt eben nach Burlington rüber. Und lass es da noch richtig krachen.«

»Viel Glück«, sagte der Barkeeper. »Hoffentlich kracht es nicht schon irgendwo unterwegs. Wär schade um Ihr Auto.«

Das Blaulicht von den Streifenwagen huschte über die Windschutzscheibe des Pick-up und verfärbte Shelbys Haut. Sie zog sich Elis Jacke fester um die Schultern und zitterte, obwohl ihr nicht kalt war. Er hatte extra ein Stück abseits geparkt, damit sie nicht auf das Autowrack und den Körper starren musste, der auf die Straße geschleudert worden war, aber sie wandte immer wieder den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen.

»Tut mir leid«, hatte Eli auf halbem Weg zum Restaurant zu ihr gesagt, als das Funkgerät im Pick-up sich meldete. »Da muss ich hin.«

Sie verstand das, und deshalb stieg sie jetzt auch aus und stöckelte in ihren hochhackigen Schuhen über den feuchten Asphalt. Außerhalb des Wagens, der die Geräusche gedämpft hatte, herrschte lärmendes Durcheinander, Sirenen heulten, Cops brüllten, Sanitäter rannten umher. Sie näherte sich dem Zentrum des Geschehens, rechnete fest damit, Ross zu sehen.

Damals bei dem Unfall, bei dem Aimee ums Leben gekommen war, musste es ähnlich gewesen sein wie jetzt. Damals war auch ein Auto umgekippt gewesen, genau wie jetzt; die Sanitäter hatten Ross auf eine Trage geschnallt, genau wie die, die gerade über den Asphalt zu dem Verletzten gerollt wurde.

Als der Anruf von der Polizei kam, stillte sie gerade Ethan. Fast hätte sie den Anrufbeantworter anspringen lassen, weil es so lästig war, gleichzeitig ein müdes Baby und einen Telefonhörer zu halten. Bis heute wusste sie nicht, ob die Stimme am anderen Ende männlich oder weiblich gewesen war. Nur ein paar Worte blieben haften, die ihr noch heute ab und zu durch den Kopf stolperten: Ross, Unfall, ernst, Beifahrerin tot.

Die Zeit blieb stehen, und Ethan war von ihrem Schoß auf die Couch gerollt. Shelby hatte versucht, sich Ross vorzustellen, verletzt und blutend, aber sie sah immer nur den mageren Fünftklässler mit den zornigen Augen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, den Schüler aus der Oberstufe zu verprügeln, der Shelby das Herz gebrochen hatte.

Jetzt schob sie zwei uniformierte Polizisten beiseite, um besser sehen zu können. Die Kleidung war zerfetzt, das Gesicht übel zugerichtet, aber Shelby erkannte trotzdem den Geschäftsmann, der mit dem Bauprojekt auf dem Pike-Grundstück zu tun hatte.

Eine Hand zog sie am Ellbogen nach hinten. Eli starrte sie aufgebracht an. »Was machst du denn hier?«

»Ich … ich musste es sehen.«

»So was sollte niemand sehen müssen.«

»Wird er überleben?«

»Ja, aber er hat ein paar schlimme Brüche und Verbrennungen.« Eli hatte sie wieder zurück zum Pick-up geführt. Er öffnete die Tür und half ihr hinein. »Bleib im Wagen.«

»Ich bin nicht Watson.«

Sein Blick wurde weich. »Allerdings nicht. Watson ist so was gewohnt. Du nicht.«

Als er sich abwandte, um wieder zur Unfallstelle zurückzugehen, rief Shelby unwillkürlich seinen Namen. Sofort drehte er sich um. Obwohl sie den Satz schon auf der Zunge hatte, wusste sie nicht, warum sie Eli unbedingt sagen wollte, was ihr durch den Kopf ging. »Ross wäre fast mal bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, sagte sie schließlich.

Eli blickte über die Schulter auf das Wrack und den Rauch. »Fast zählt nicht«, sagte er.

Ethan hatte heimlich das EMF-Messgerät aus dem Zimmer seines Onkels geholt und sich für seine Flucht für ein kurzärmeliges T-Shirt entschieden, das er sonst nur im Haus tragen durfte. Ein leises Klopfen an der Tür verriet ihm, dass Lucy fertig war. Sie schlüpfte in sein Zimmer, die Augen so groß und so ängstlich, dass Ethan lachen musste. »Wir sind doch noch nicht mal unterwegs. Cool bleiben.«

»Stimmt«, flüsterte Lucy atemlos. »Was wäre denn das Schlimmste, was passieren könnte?«

Für Lucy wäre das Schlimmste, dass sie Panik bekäme. Onkel Ross hatte gesagt, dass ein menschlicher Geist einem nichts tun konnte. Für Ethan wäre das Schlimmste, na ja, viel schlimmer. Er hatte Lucy erzählt, dass er von der Sonne krank wurde, aber er hatte ihr nicht erzählt, dass er davon sterben könnte. Aber Ethan hatte sich alles genau überlegt, und wenn er schon jung sterben musste, dann wenigstens so, wie er es wollte. Jedenfalls nicht auf irgendeiner Kinderstation mit blöden lilafarbenen Dinosauriern an den Fenstern, als könnten die ein Kind darüber hinwegtäuschen, wo es war.

Vielleicht konnte ja die Hoffnung, wenn sie groß genug war, das Schicksal in eine andere Bahn lenken – es war möglich, dass die Blutsbrüderschaft, die er und Lucy am Abend vorher geschlossen hatten, sie beide ein bisschen verändert hatte: Vielleicht war Lucy ein wenig tapferer und er ein wenig stärker geworden. »Okay«, sagte Ethan, steckte das EMF-Gerät ein und öffnete das Fenster. »Wir rutschen vorsichtig runter aufs Verandadach, und dann springen wir.« Er setzte einen Fuß auf die Fensterbank. »Ich gehe als Erster.«

»Moment noch.«

Ethan drehte sich um. »Lucy, wir haben doch lang und breit darüber geredet, schon vergessen? Du bist ein Angsthase, und ich hab diese bescheuerte Krankheit. Also? Bloß Versager finden sich damit ab.«

Sie nickte und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Wo wollen wir noch mal hin?«

»Zu der einzigen Stelle in ganz Comtosook, wo man einen Geist finden kann und sehen, wie die Sonne aufgeht«, antwortete er. »Vertrau mir.« Er streckte seine weiße Hand aus und wartete, bis Lucy ihre hineinlegte, ein Schwur. Dann kletterten sie durchs Fenster hinaus in die Dunkelheit, fest entschlossen, ihr Leben zu ändern.

Am Ufer von Lake Champlain dachte Az Thompson an den Tag zurück, als seine Tochter Lia mit einer Sozialarbeiterin hierhergekommen war und er ihr eine Sprache geschenkt hatte, in der sie reden konnte. Damals hatte er sich noch nicht getraut, ihr zu sagen, wer er war oder dass er sie kannte. Stattdessen hatte er ihr ein paar Worte Abenaki beigebracht, Worte, die sie in sich aufnehmen konnte, damit sie in ihr Wurzeln schlugen. Ein geheimer Garten für das Enkelkind, das sie in sich trug.

Worte, so flüchtig und unsichtbar sie auch waren, besaßen große Kraft. Sie konnten so stark sein wie eine Festungsmauer und so spitz wie ein Florett. Sie konnten beißen, schlagen, schockieren, verwunden. Aber anders als Taten konnten Worte dir nicht wirklich helfen. Kein Versprechen hatte je einen Menschen gerettet; erst wenn es gehalten wurde, brachte es Erlösung.

Wie passend, so dachte er, dass es nach allem, was passiert war, noch immer darauf ankam, was geschrieben und was gesagt worden war. Er betrachtete die Kiste mit Akten und Stammbaumkarten, die am Flussufer stand. Es war nicht schwer gewesen, in den Keller der Stadtverwaltung einzudringen und die letzten Zeugnisse des Vermonter Eugenikprojektes herauszuholen, die Ross Wake mans Schwester wieder dorthin zurückgebracht hatte.