Az wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Wörter ihrer Macht zu berauben: Sie mussten getilgt werden. War ein Wort erst mal in die Welt entlassen worden, konnte man es nicht mehr zurückrufen, aber man konnte es daran hindern, dass es erneut ein offenes Ohr fand. Er nahm das mitgebrachte Isolierband und die erste Akte von Spencer Pike, drückte sich die Akte an die Brust und wickelte das Klebeband einmal um den Körper.
Während er Akten und Papiere und Stammbaumkarten an seinem dünnen Körper befestigte, dachte Az an seine Tochter: daran, wie ihre Augen aufleuchteten, wenn sie ihn kommen sah, an die Bewegung ihrer Hände auf ihrem schwangeren Leib, daran, dass sie ihn immer an eine Orchidee erinnert hatte.
Seine Gedanken wanderten noch weiter zurück, zu dem Augenblick, als er seine wunderschöne Lily zum ersten Mal gesehen hatte, an dem Tag, als er bei ihrem Vater auf den Feldern angefangen hatte. Irgendwann war er am Haus vorbeigekommen und hatte sie mit ihrem silber glänzenden Haar und der weißen Haut auf der Veranda Walzer tanzen sehen. Sie hatte dabei eine Melodie gesummt, die Arme um einen imaginären Partner geschlungen. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand sie beobachtete, und schon das hatte Az den Atem geraubt. Sie braucht einen Partner, hatte Az gedacht, und so hatte es angefangen.
Er fragte sich, ob Meredith schon mit Winks über das Land gesprochen hatte. Er fragte sich, ob sie wohl nach Comtosook zurückkehren würde, wie sie gesagt hatte. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, verwechselte er sie mit Lia. Sie sahen sich ähnlich, ja, aber das war nicht alles. Er konnte nicht für seine Tochter sprechen, aber er glaubte, Lia wäre stolz gewesen.
Als er sich die letzte Akte am Körper befestigt hatte, ging Az ins Wasser. Selbst im August war es so kalt, dass seine Knöchel rasch gefühllos wurden. Er spürte, wie die Akten sich vollsogen. Das Papier war ein Schwamm, der ihn auf den schlammigen Grund des Sees drückte.
Az atmete noch einmal tief ein, bevor sein Kopf unterging. Er ging über den Seeboden, wirbelte Schnecken und Steine und vergessene Schätze auf. Er ließ die Luft aus seiner Lunge sprudeln und legte sich auf den Rücken, beschwert durch das Gewicht der Geschichte an seinem Körper, und dort wartete er auf den Morgen.
»Es tut mir so leid«, sagte Eli mindestens zum soundsovielten Mal zu Shelby, als er die Tür zu seinem Haus öffnete, in dem ein einsamer Watson sie begrüßte.
»Du kannst doch nichts dafür.«
Eli war bis nach ein Uhr mit dem Autounfall beschäftigt gewesen. Jetzt bekamen sie nicht mal mehr bei McDonald’s etwas zu essen. Eli warf die Schlüssel in eine Schale auf dem Küchentisch, in der drei überreife Bananen lagen. »Die reinste Katastrophe«, murmelte er und öffnete den Kühlschrank. »Ich kann dir nicht mal was zubereiten. Außer du magst Brot mit Senf.« Er inspizierte die Packung. »Berichtigung: Penicillin mit Senf.«
Plötzlich umarmte Shelby ihn von hinten. »Eli«, sagte sie. »Ich hab gar keinen so großen Hunger.«
»Nein?« Er richtete sich auf und drehte sich zu ihr um.
Sie lockerte seine Krawatte. Dann schlüpfte sie aus ihren Pumps. »Nein«, sagte sie. »Aber heiß ist mir.«
Wem sagst du das, dachte Eli, und dann drehte sie sich um und hob ihr langes Haar im Nacken an. »Machst du mir den Reißverschluss auf?«
Zentimeter für Zentimeter zog er den kleinen Metallgriff nach unten, und mit jeder sich öffnenden Verzahnung wurde er nervöser. Shelbys Haut war so unglaublich weiß und glatt. Noch ein Stückchen tiefer, und der Verschluss ihres schwarzen BHs kam zum Vorschein.
Er trat irritiert zurück. »Vielleicht, äh, ziehst du dir besser was Bequemeres über«, schlug er vor.
»Ich hab aber gar nichts dabei.« Shelby griff nach hinten, zog den Reißverschluss ganz auf und ließ das Kleid zu Boden gleiten, sodass sie plötzlich wie eine Fata Morgana aus Fleisch und Blut und Spitzenunterwäsche vor Eli stand. Mit einem Lächeln wandte sie sich ab und ging die Treppe hinauf, Watson folgte ihr.
Eli zog seinen Piepser und das Handy aus dem Gürtel und schaltete beide Geräte ab. Dann nahm er den Telefonhörer von der Gabel. Das war zwar alles gegen die Dienstvorschrift, aber eine Tragödie pro Nacht reichte. Und ehrlich gesagt, es war ihm ziemlich egal, ob die Welt unterging, solange er mit Shelby zusammen war, wenn es passierte.
Meredith hatte jede Zeitschrift in Shelbys Haus durchgeblättert, als sie merkte, dass irgendetwas nicht stimmte – nämlich dass sie dabei kein einziges Mal von ihrer Tochter gestört worden war. Von Ethan hatte sie auch keinen Ton gehört.
Meredith legte das Heft beiseite und rief die beiden. Keine Antwort, aber sie waren ja auch mit einem Computerspiel beschäftigt gewesen und hatten die Tür geschlossen. Meredith lief die Treppe hinauf und rüttelte an der verschlossenen Tür. »Ethan?«, rief sie. »Was macht ihr beiden denn da drin?«
Als noch immer keine Antwort kam, wurde sie unruhig. Sie holte sich einen Kleiderbügel aus Draht und stocherte damit in dem Schloss herum, bis die Tür aufsprang.
Das Fenster war offen.
Meredith raste die Treppe hinunter zum Telefon.
Als Ross in die Küche kam, knallte Meredith gerade den Telefonhörer auf die Gabel und drehte sich um, mit Tränen im Gesicht. »Das Restaurant hat geschlossen, und Eli hat den Piepser und das Handy ausgeschaltet, und die Polizei will mir seine Privatnummer nicht geben und …«
Die düstere Stimmung, die ihn befallen hatte, war schlagartig verflogen. »Was ist denn los?«
»Die Kinder«, schluchzte Meredith, »sind verschwunden.«
»Seit wann?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe es eben erst bemerkt.«
»Und Shelby und Eli sind nicht erreichbar?« Sie schüttelte den Kopf. »Okay. Ich fahr die Kinder suchen.«
»Wo denn? Wir wissen doch nicht, wo sie sind.«
»Doch, ich schon. Bleib hier, falls sie anrufen oder Shelby nach Hause kommt.« Aber als er zur Tür ging, wusste er, dass Meredith nur einen Schritt hinter ihm war.
Wer hätte gedacht, dass es so viele verschiedene Schwarztöne gab? Der mondlose Himmel war genau wie eine Bettdecke über dem Kopf, und der Steinbruch, ein tiefer Kreis aus Nichts direkt vor Lucys Schuhspitzen, war nur ein bisschen dunkler als die Nacht. Ein Schritt, ein Fehler, und sie würden abstürzen. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um Ethan zu sehen, der auf einmal das Absperrungsgeländer losließ und vor ihren Augen verschwand.
Ihr Atem wurde fest, wie ein Klotz in der Kehle. Sie hätte geschrien, aber was würde Ethan von ihr denken? Dann tauchte sein Kopf dicht neben ihren Füßen wieder auf. »Wartest du auf eine schriftliche Einladung?«, fragte er, und sie merkte, dass er auf einer Leiter stand, die hinunter in den Steinbruch führte.
Ethan hatte gesagt, da unten wäre ein Geist, ein Steinbruchaufseher, der von irgendeinem Verrückten getötet worden war. Er meinte, sie würden den Geist auf jeden Fall zu Gesicht bekommen. Er hatte gesagt, dass sie sich vielleicht vor einem Wachmann verstecken müssten, aber wie es aussah, waren sie beide die Einzigen weit und breit. Vielleicht war das ja Glück, vielleicht bedeutete es, dass es nicht schlimm war, hier zu sein. Also stieg Lucy die Leiter nach unten. Riesige Steinsäulen ragten um sie herum auf, schienen sich zu bewegen. Die Sohlen ihrer Turnschuhe rutschten auf einer Granitplatte ab, und sie landete auf einem Geröllhaufen. »Alles klar?«, rief Ethan. Es war so dunkel, dass sie ihn kaum sehen konnte.
Plötzlich begriff sie, dass Ethan immerzu so lebte.
Sie krochen zwischen Felsspalten hindurch, die so schmal waren, dass Lucy die Luft anhalten musste, an steilen Wänden hoch und unter schrägen Pfeilern her und über riesige, zerklüftete Blöcke hinweg. Sie balancierten über Steinnadeln, die kreuz und quer lagen, als hätte ein Riese Mikado gespielt. Hin und wieder traten sie einen lockeren Granitbrocken los, der in einer Staubwolke nach unten polterte. »Alles in Ordnung?«, sagte dann Ethans Stimme aus dem Dunkel, und sie gingen weiter.