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Lucys Hände und Knie waren schon ganz zerschrammt, und sie hatte sich irgendwo einen tiefen Schnitt zugezogen, den sie lieber gar nicht erst sehen wollte. Sie stieß gegen Ethans Rücken und erkannte, dass sie die andere Seite des Steinbruchs erreicht hatten, gegenüber der Leiter. »Hier bleiben wir«, sagte Ethan und zeigte auf zwei Granitplatten, die im spitzen Winkel aneinanderlehnten und einen Sims bildeten.

Er kletterte als Erster hinauf. Dann streckte er die Hand nach unten, um Lucy hochzuziehen, aber ihre staubigen Finger rutschten voneinander ab, und mit einem kurzen Aufschrei fiel Lucy auf ein Geröllbett. »Lucy, alles in Ordnung?«, rief Ethan.

Tränen schossen ihr in die Augen, doch sie zwang sich aufzustehen. »Ja«, sagte Lucy und kletterte ganz vorsichtig nach oben, schob die Füße fest in die Risse im Granit, ehe sie mit der Hand nach dem nächsten Halt tastete. Oben angekommen, ließ sie sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen, während Ethan seine Geisterjägerausrüstung aufbaute. Als sie wieder zu Atem gekommen war, setzte sie sich auf und schaltete eine Taschenlampe an, ließ den Strahl über die Strecke gleiten, die sie hinter sich gebracht hatten. Lucys Augen wurden groß, als sie die Steintürme und zerklüfteten Kanten sah, die ungeheure Entfernung. Die Leiter, die sie hinabgeklettert waren, war so weit weg, dass sie kaum zu erkennen war.

Lucy hatte schon jetzt mehr Mut bewiesen, als sie für möglich gehalten hätte.

»Und nun?«, fragte Lucy.

»Nichts. Jetzt können wir nur noch warten.« Sie setzten sich fröstelnd Schulter an Schulter. »Weißt du, was ein Stern ist?«, fragte Ethan kurz darauf, und Lucy schüttelte den Kopf. »Eine Explosion, die lange her ist, Hunderte von Jahren, die wir aber jetzt erst sehen.«

»Wieso?«

»Weil das Licht so lange braucht, bis es hier ankommt.«

Vielleicht war es bei Geistern so ähnlich, dachte Lucy. Vielleicht bewegte sich Traurigkeit nicht so schnell wie das wirkliche Leben, und deshalb tauchten sie Jahre nach ihrem Tod auf. Sie blinzelte zu dem trüben Himmel hinauf, hielt Ausschau nach einem einzigen Stern. Die Explosion war bestimmt laut und grell und schrecklich gewesen. Aber das, was sie jetzt sah, war einfach schön.

Vielleicht sah ja alles aus der Entfernung besser aus.

Noch ehe dieses Radiodings, das Ethan in der Hand hielt, anfing zu piepsen, wusste Lucy, was kam. Sie spürte das Gewicht der Luft auf der Haut, in dem hohlen Hall, der in ihre Ohren drang. Die Härchen auf ihren Armen sträubten sich, und ihr Magen schien sich um sich selbst zu drehen. »Bild ich mir das ein«, wisperte Ethan, »oder ist es gerade fünfzig Grad kälter geworden?«

Das kleine Radio lärmte jetzt ungeheuerlich. »Lucy«, flüsterte Ethan. »Steh auf.«

Sie tat es. Sie ging bis ganz dicht an den Rand von ihrem Sims, und im Kopf dachte sie, so fest sie konnte: Du kannst mir keine Angst einjagen.

Ethan hatte ihr gesagt, dass Geister sich nicht ohne Energie materialisieren konnten. Angst war eine Art Energie, und man konnte sie klein zusammenknüllen wie eine Kugel. Deshalb beschwor Lucy jetzt das ganze Grauen herauf, das sie in die Falten ihres Bettlakens und hinter die Wand aus Kleidern in ihrem Schrank gesteckt hatte. Sie dachte an all die Asthmaanfälle, die sie gehabt hatte, wenn ein Geist ihr direkt gegenüberstand. Sie presste die Augen fest zu und konzentrierte sich, und einen Moment später, als sie vorsichtig blinzelte, sah sie einen Mann auf sich zukommen.

Es war ein Mann, und es war kein Mann. Er war durchsichtig, wie die Frau, die in Lucys Zimmer kam, und Lucy konnte die scharfen Felskanten durch seine Schultern und sein Rückgrat hindurch sehen. Außerdem war er seltsam gekleidet: ein gestreiftes Hemd, das aussah wie eine alte Matratze, eine Hose, die keine Gürtelschlaufen hatte, und eine Weste mit einer glänzenden goldenen Taschenuhr. Er hatte einen Schnurrbart, der an den Spitzen nach oben gezwirbelt war, wie bei einem Gewichtheber im Zirkus, und das Haar klebte ihm am Kopf. An die Arbeit, sagte er mitten in ihrem Kopf.

Lucy spürte, wie ihr die Knie schlotterten. Hau ab, erwiderte sie ihm in Gedanken.

Und zu ihrer großen Verblüffung tat der Geist wie geheißen. Er machte zwei Schritte nach vorn, ging direkt durch sie durch, sodass ihre Knochen und Adern eiskalt wurden und sie einen kurzen Augenblick lang genauso reglos war wie die Felsen um sie herum, und dann verschwand er.

Lucy lächelte. Sie sah sich um, aber sonst spukte niemand in diesem Steinbruch herum. Und tatsächlich, das Druckgefühl in ihrer Magengrube war weg. Sie schlüpfte wieder in ihre kleine Höhle zu Ethan, der das EMF-Messgerät gegen die Granitplatte schlug. »Mann«, sagte er, »das Teil funktioniert einfach nicht.«

Lucy starrte ihn an. »Hast du denn nichts gesehen?«

»Nee. Falscher Alarm.« Er blickte auf. »Wieso? Du denn?«

»Und ob«, sagte Lucy.

Elis Körper war lang und sehnig und muskulös, seine Berührung so zart wie die Versprechen, die er ihr ins Ohr raunte. Shelby ließ sich von ihm durch den Augenblick hindurchführen, unsicher, ob sie überhaupt noch wusste, wie es ging, doch als ihre Gliedmaßen ineinander verschlungen waren, hatte sie längst vergessen, je Zweifel gehabt zu haben.

Er küsste ihre Fußknöchel, glitt über Waden und Knie und Oberschenkel nach oben, bis sie es kaum noch erwarten konnte, dass er ganz zu ihr kam. Als er es tat, als sich sein Mund auf sie senkte, reckte sie sich ihm entgegen und schloss die Augen, sah Landschaften aus Gold, leuchtende Smaragde, Schauer von Rubinen. Sie brannten heißer, kleiner, wurden zu Quasaren und Novas und füllten ein Universum. Eli bewegte sich, als hätte er alle Zeit der Welt. Dann, gerade als sie sich nicht länger zurückhalten konnte, war er plötzlich über ihr, zwang sie, ihn anzusehen, damit sie genau erkannte, welche Richtung ihr Leben nahm. »Wo warst du so lange?«, murmelte Eli und füllte sie aus.

Ihre Körper wiegten sich um einen Fixpunkt, ihr Rhythmus erzählte eine Geschichte. Und in dem Augenblick, als sie beide losließen, vergaß Shelby jedes Wort, das sie je gelernt hatte, bis auf eines: Wir.

Als Eli in ihren Armen eingeschlafen war, schob Shelby sich unter ihm hervor und schmiegte sich an ihn. Sie versuchte, sich die Muster seiner Sommersprossen und die Linie seines Scheitels einzuprägen. Sie roch ihren eigenen Duft auf seiner Haut.

Etwas drückte unangenehm gegen ihren Oberschenkel, und sie rutschte ein Stück zur Seite, suchte eine bequemere Position. Aber was immer es war, es bewegte sich mit ihr, und als Shelby die Hand zwischen Eli und sich schob, ertastete sie einen kleinen, scharfkantigen Gegenstand. Sie hielt ihn in den rosafarbenen Streifen Tageslicht, der schräg auf die Bettdecke fiel, und runzelte die Stirn. Diese ungewöhnliche Fassung, die Kombination von Steinen, kam ihr sehr bekannt vor.

»Hallo.« Eli griff nach ihr.

»Hallo«, sagte Shelby, den Mund auf seinen Lippen, und vergaß alles andere. Sie ließ den Diamantring fallen, den Ross vor vielen Jahren Aimee geschenkt hatte und der vor Monaten bei ihr zu Hause verschwunden war.

Es war das Schönste, das Ethan je gesehen hatte – die zarten Rosatöne und sanften Orangefarben, die Morgenröte, die die Sterne erblassen ließ, die Linie, an der die Nacht zum Tag wurde. Ethan hätte sich gewünscht, dass die Dämmerung noch einmal anbrach, jetzt sofort, obwohl das bedeutet hätte, dass er noch einen Tag älter und seinem Tod näher wäre.

Lucy hatte noch geschlafen, als Ethan auf den Sims gekrochen war. Er saß im Schneidersitz, die Arme vor sich ausgestreckt, und mit jedem Grad, den die Sonne am Himmel höher stieg, entstand eine weitere Blase auf seiner Haut.