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»Das ist eine Drohung«, sagte Rod zu Eli. »Sie haben’s gehört.«

Az lachte. »Womit hab ich Ihnen denn gedroht?«

»Mit einem Fluch. Irgendeiner … Hexerei.«

Der alte Indianer schloss eine Hand um seine Pfeife und zündete mit der anderen die Blätter darin an. »An so was muss man glauben, damit es funktioniert.« Er inhalierte. »Glauben Sie an so was, Mr. van Vleet?«

»Hören Sie«, sagte Eli mit einem Seufzer. »Ich weiß, was ihr alle von der Baufirma haltet, Az. Aber wenn ihr euch beschweren wollt, dann macht das am besten auf dem Rechtsweg.«

»Als das Rechtssystem beim letzten Mal behauptet hat, es wüsste, was gut für die Abenaki ist, wäre es ihm fast geglückt, uns auszurotten«, entgegnete Az. »Nein, Detective Rochert, ich glaube nicht, dass wir Ihren Rechtsweg einschlagen werden.«

»Seinen Rechtsweg?«, schnaubte Winks, der jetzt stand und sich die Jeans abklopfte. »Eli, wer hat dir denn erzählt, dass deine Haut in der schicken, blauen Uniform nicht ganz so rot aussieht?«

Eli packte Winks am Hemdkragen und stieß ihn seitlich gegen den Bulldozer. Sofort war Watson hinter ihm, fletschte die Zähne. Eli hörte das wohltuende Geräusch, als Winks’ Kopf auf Metall prallte, dann kam er wieder zur Vernunft. Er spürte, dass Az Thompson ihn beobachtete.

Als er sich abwandte und seinen Hund zurückrief, erinnerte Eli sich, wie er mit den Verwandten seiner Mutter am Ufer des Sees geangelt hatte, einen Sommer lang. Die Kinder, braun und barfuß, spielten so oft Fangen, dass das hohe Gras auf einer großen Fläche platt getreten war. Eli war zehn, als ihm klar wurde, dass der See, den er als pitawbagw kannte – das Wasser, das dazwischen liegt –, auf der Landkarte Lake Champlain hieß.

Mit einem Nicken gab er dem Fahrer des Bulldozers das Signal, dass er mit der Arbeit beginnen konnte, und drehte sich bewusst von den Indianern weg, entschlossen, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Eine Woche nach seiner Ankunft in Comtosook spazierte Ross am Ufer des Sees entlang, ohne auf die spitzen Kieselsteine unter seinen nackten Füßen zu achten. Das Wasser war kalt – zu kalt für August –, aber das störte ihn nicht. Etwas zu empfinden tat gut, selbst wenn es Unbehagen war.

Lake Champlain war so groß, dass man das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte, obwohl dort in der Ferne die Adirondacks wie Soldaten aufragten. Aimee war auf der anderen Seite geboren worden, im Norden des Staates New York. An dem Tag, als die Welt unterging, waren sie unterwegs zu ihren Eltern.

Als Ross noch in dem Buchladen in Manhattan gearbeitet hatte, fand dort einmal eine Autorenlesung zum Thema Bestattungsrituale statt. In Tibet zog ein Mönch dem Verstorbenen das Fleisch von den Knochen und schnitt alles in Stücke, damit Geier die Überreste verschlingen konnten. Auf Bali wurden die Toten bis zu ihrer feierlichen Verbrennung beerdigt, weil die Vorbereitung der spektakulären Zeremonien mitunter Jahre dauerte.

Während der Lesung hatte Ross im Hintergrund gestanden und nur gestaunt. Irgendwann war Aimee hereingeplatzt und wäre fast an ihm vorbei ins Lager gestolpert, wenn er sie nicht festgehalten hätte.

Sie warf sich in seine Arme und fing an zu schluchzen. Das Publikum reckte schon die Köpfe, und auch der Autor blickte irritiert auf.

Ross zog Aimee an der Hand in die Abteilung für Gartenbücher. Mit klopfendem Herzen nahm er ihr Gesicht in beide Hände: Sie hatte Krebs, sie war schwanger, sie liebte ihn nicht mehr.

»Martin ist tot«, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme heraus.

Martin Birenbaum war bei einer Explosion in einer Chemiefabrik schwer verletzt worden. Er hatte an 85 Prozent seines Körpers Verbrennungen dritten Grades erlitten. Aimee, die als Assistenzärztin in der Notaufnahme arbeitete, war für ihn zuständig gewesen. Sie hatte alles getan, um seine Schmerzen weitestgehend zu lindern. Als er sie fragte, ob er sterben würde, hatte sie ihm in die Augen geblickt und Ja gesagt.

Er war der erste Patient, den sie verlor, und deshalb hatte sich sein Gesicht unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. »Ich bin bei ihm geblieben, weil ich wusste, dass ich ihm nicht helfen kann«, gestand Aimee. »Vielleicht wird es ja mit jedem Mal leichter. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte ich nie Medizin studieren sollen.« Plötzlich starrte sie ihn an. »Wenn ich sterbe, musst du bei mir sein. So wie ich heute bei Martin war.«

»Du stirbst nicht …«

»Ross, bitte! Versprich es mir!«

»Nein«, sagte er kategorisch. »Weil ich zuerst dran bin.«

Sie schwieg einen Moment, lachte dann leise auf. »Hast du schon einen Termin?«

»Guei, das heißt hungrige Geister«, sagte der Vortragende genau in diesem Moment, »sind die Seelen der Chinesen, die keines natürlichen Todes gestorben sind … deshalb suchen sie die Lebenden heim.«

Ross warf einen Stein in den See, der über das Wasser hüpfte und unterging. Aimee war eingeäschert worden. Ihre Asche war irgendwo auf der anderen Seite des Sees, bei ihren Eltern. Er wusste nicht, was sie damit gemacht hatten; nach drei Jahren hatte er nicht mehr auf ihre Anrufe und Briefe reagiert, weil es einfach zu schmerzlich war.

Wenn ich sterbe, musst du bei mir sein.

Aber er war nicht bei ihr gewesen.

Meredith Olivers Büro im Generra Institute hatte eine Postleitzahl von Washington, D.C., und wenn man aus dem Fenster sah, konnte man in der Ferne das Jefferson Memorial erahnen. Sie fand das ziemlich absurd, da die meisten Wissenschaftler im Institut nichts von der Idee hielten, dass alle Menschen gleich geschaffen sind – ihrer Meinung nach überlebten nur die Stärksten.

Ihr gegenüber saßen Mr. und Mrs. De la Corria und hielten sich nervös an der Hand. »Gute Neuigkeiten«, sagte Meredith mit einem Lächeln. Sie war seit zehn Jahren in der genetischen Präimplantationsdiagnostik tätig und hatte festgestellt, dass für ein Paar nur eines noch nervenaufreibender war als die In-vitro-Befruchtung, nämlich das Warten auf die Ergebnisse der vorausgehenden Tests. »Es gibt drei lebensfähige Embryos.«

Carlos De la Corria war Bluter. Aus Angst, die Krankheit an seine Kinder zu vererben, hatten er und seine Frau sich für eine künstliche Befruchtung entschieden, wobei die aus seinem Sperma und ihren Eiern entstandenen Embryos von Meredith genetisch untersucht wurden. In den Uterus der Mutter eingepflanzt wurde dann der Embryo, der nicht die Gene für Hämophilie, die Bluterkrankheit, in sich trug.

»Wie viele davon sind Jungs?«, fragte Carlos.

»Zwei.« Meredith blickte ihm in die Augen. Die Gene für Hämophilie wurden über das X-Chromosom übertragen. Ein männliches Kind der De la Corrias konnte somit die Krankheit des Vaters nicht weitervererben.

Carlos hob seine Frau aus dem Sessel und wirbelte sie durch Meredith’ kleines Büro. All die Moralapostel, die ständig vor den möglichen Folgen genetischer Modifikation warnten, müssten nur einmal einen solchen Augenblick erleben.

Mrs. De la Corria sank atemlos wieder in ihren Sessel. »Das Mädchen?«, fragte sie leise.

»Der dritte Embryo ist leider ein Träger«, erwiderte Meredith.

Carlos drückte die Hand seiner Frau. »Na dann«, sagte er optimistisch, »bekommen wir eben zwei Jungs, Zwillinge.«

Es gab noch immer genügend Hindernisse zu überwinden, aber Meredith hatte ihren Teil der Arbeit getan. Die Implantation würden Kollegen von ihr vornehmen. Meredith nahm den Dank der De la Corrias entgegen und schaute dann in ihren Terminkalender. Noch zwei Beratungsgespräche, und dann konnte sie den Nachmittag über im Labor arbeiten.

Sie setzte ihre Lesebrille auf und zog den Stift aus dem Haar, den sie als behelfsmäßige Spange benutzte. Ihre honiggelben Locken fielen ihr wirr auf die Schultern, so chaotisch, als hätte Gott sich einen Scherz erlaubt, indem er der Ordnungsfanatikerin Meredith Oliver eine Haarpracht bescherte, die sich einfach nicht bändigen ließ. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, rieb ihre geröteten Augen. »Heute Abend«, so sagte sie laut zu sich selbst, »werde ich nicht arbeiten.«