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Die Wucht der Detonation riss ihn von den Beinen, und sein Kopf schlug mit voller Wucht auf einen gezackten Stein auf. Und als er gerade dachte, dass er endlich etwas gefunden hatte, wofür es sich zu leben lohnte, musste Ross erkennen, dass er doch nicht unbesiegbar war.

Als Eli und Shelby eintrafen, waren die ersten Rettungswagen bereits wieder abgefahren. Im Steinbruch wimmelte es von Polizisten, die aus Nachbargemeinden angefordert worden waren, um das ganze Gelände abzusperren. Ein anderer Detective sprach gerade mit den Besitzern des Angel-Steinbruchs, die herbeigeeilt waren, natürlich in Begleitung ihres Anwalts. Keiner wusste, wo Az Thompson, der Nachtwächter, war. Seine Abwesenheit machte es leicht, ihn zum Sündenbock abzustempeln.

Eli hastete zu den Sanitätern hinüber. »Die Kinder. Wo sind die Kinder?«

»Denen ist nichts passiert. Ein paar Schürfwunden und Prellungen. Sie sind auf dem Weg ins Krankenhaus.«

Er spürte, wie Shelby neben ihm in sich zusammensank, und er legte stützend den Arm um sie.

»Können wir hinfahren?«, fragte Shelby. »Sofort? Zum Krankenhaus?«

Doch bevor er antworten konnte, erregte etwas an der Absperrung seine Aufmerksamkeit. Drei Rettungshelfer hoben behutsam eine Trage über den Rand. Auf ihr festgeschnallt lag, ramponiert und blutverschmiert, Meredith.

»Um Gottes willen«, hauchte Shelby, während sie mit ansah, wie die ohnmächtige Meredith in einen Rettungswagen geschoben wurde. Und erst jetzt registrierte sie Ross’ Auto. Shelby hielt einen Sanitäter an der Jacke fest. »Wo ist mein Bruder. Wo ist mein Bruder?« Der Mann antwortete nicht, aber sie hielt ihn weiter fest. »Ross Wakeman«, sagte sie. »Er muss hier irgendwo sein.«

Stille breitete sich aus. Niemand wollte ihr antworten, und das war Antwort genug. »Nein«, schrie Shelby und sank auf die Knie. »Nein!«

Eli legte die Arme um sie. »Er ist im Krankenhaus«, sagte er mit Nachdruck. Dann sah er einen Sanitäter an. »Hab ich recht?«

»Ja, stimmt, er ist im Krankenhaus.«

»Siehst du?« Eli half Shelby hoch und führte sie zu seinem Wagen. »Wir fahren jetzt zu Ethan. Und zu Ross.«

»Okay.« Shelby nickte unter Tränen. »Okay.«

Eli machte die Tür zu. Als er auf die Fahrerseite ging, berührte der Sanitäter ihn an der Schulter. »Äh, Detective. Was den Mann betrifft … «

»Er ist im Krankenhaus«, wiederholte Eli.

»Ja, aber das war nur noch eine reine Formsache«, sagte der Sanitäter. »Er war schon tot, als wir ihn fanden.«

Ross fuhr, und Aimee saß auf dem Beifahrersitz. »Dänemark«, sagte er.

Sie überlegte einen Moment. »Kirgisistan.«

Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden, als hätte er sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, obwohl er wusste, dass das unmöglich der Fall sein konnte … sie waren nie länger als zweiundsiebzig Stunden voneinander getrennt, und das auch nur, wenn Aimee Nachtdienst im Krankenhaus hatte. Immer wieder schielte Ross hinüber, um die Kontur ihrer Wangenpartie zu betrachten, ihre Augen, die Stelle, wo der lange Zopf auf ihren Rücken fiel. »New York«, murmelte er.

Aimee verdrehte die Augen. »Ach, komm schon, Ross, schon wieder ein K?«

»Du hast fünfzehn Jahre Ausbildung hinter dir, da müsste so ein bisschen Geografie doch ein Kinderspiel sein.«

»Na schön, Kalamazoo.«

Er lächelte und blickte auf die Straße. Sie fuhren schnell, und draußen goss es in Strömen, trotzdem hätte er schwören können, dass er die Frau erkannt hatte, die da am Straßenrand entlangging – es war seine alte Kindergärtnerin. Sie trug einen gelben Kittel, an den Ross sich noch erinnern konnte. Er blickte in den Rückspiegel, aber sie war verschwunden. »Oshkosh«, erwiderte Ross.

Aimee hatte die Schuhe ausgezogen – wie immer bei längeren Autofahrten. »Himmel.«

»Der Himmel ist weder Land noch Stadt.«

»Aber ein Ort«, widersprach Aimee.

Ross zog die Stirn kraus. »Und da bist du dir ganz sicher.« Er blickte in den Seitenspiegel und wäre fast ins Schleudern gekommen, denn hinter ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite war seine Mutter. Sie trug einen Pullover mit kleinen Perlen um den Halsausschnitt. Er erinnerte sich, dass er als Kind auf ihrem Schoß die Perlen zwischen den Fingern gedreht hatte. Sie lächelte ihm zu und winkte.

Seine Mutter war seit 1996 tot. Seine Kindergärtnerin noch viel länger. Und Kirgisistan gehörte noch zur UdSSR, als Aimee starb.

Der Himmel ist kein Ort.

Die Straße machte eine Biegung, und plötzlich kam ihnen ein Sattelschlepper entgegen, auf ihrer Fahrspur. »Ross!«, schrie Aimee, und er riss das Lenkrad nach links, auf die Gegenspur. Zu spät bemerkte er den Kleinwagen, der durch den massigen Sattelschlepper verdeckt gewesen war und jetzt auf sie zuraste.

Reifen quietschten entsetzlich auf nasser Straße, und dann kam der jähe, wuchtige Aufprall von Blech auf Blech. Ross fand sich ausgestreckt neben dem umgestürzten Wagen wieder. Er riss die Beifahrertür auf, griff ins Wageninnere und löste Aimees Sicherheitsgurt.

Sie war an der Schulter verletzt, und Blut durchtränkte ihre Bluse, doch ihr Gesicht, es war herzförmig, unversehrt und wunderschön. Der dicke Mozartzopf hatte sich gelöst, und ihr Haar lag aufgefächert auf der Brust wie ein Seidenschal. »Aimee«, sagt er leise. »Gott.«

Er setzte sich und zog sie auf seinen Schoß, weinte, als die volle Wucht seiner Erinnerungen ihn traf wie ein Faustschlag. Er strich ihr das regennasse Haar aus dem Gesicht. »Ich lass dich nicht allein. Ich bleib bei dir.«

Aimee blinzelte und sah ihn an. »Ross«, sagte sie und blickte über seine Schulter. »Du musst gehen.«

In all den Jahren hatte er sich nicht mehr an diese Worte erinnert, an Aimees Aufforderung, die ihn von der Schuld befreite, nicht an ihrer Seite gewesen zu sein, als sie starb. Er schloss die Arme noch enger um sie und neigte sich vor, aber plötzlich stand jemand neben ihm und versuchte, ihn ebenso entschlossen zum Aufstehen zu bewegen, wie er bleiben wollte.

Wütend fuhr er herum und sah Lia.

Aimee lag in seinen Armen, Lia war hinter ihm, und er erstarrte. Er litt Höllenqualen, war mitten in einem Albtraum. Beide Frauen brauchten ihn, jede besaß die Hälfte seines Herzens. Zu welcher gehe ich?, dachte er. Und welche verliere ich?

Lia zog ihn hoch, zu dem anderen Unfallwagen, der auf der Seite lag, direkt vor der Leitplanke. Ross wollte sich von ihr losreißen und zurück zu Aimee, war sicher, dass es ein Test war, den er diesmal bestehen musste.

Aber jetzt konnte er Aimee gar nicht mehr sehen, weil das andere Auto zwischen ihnen war. Frustriert schüttelte Ross Lias Hand ab und riss die Tür des völlig zerstörten grünen Honda auf. Ein Körper lag zusammengesackt und zur Seite gesunken hinter dem Lenkrad. Ross roch Benzin und wusste, der Wagen würde jede Sekunde in Brand geraten.

Er tastete nach dem Sicherheitsgurt, der sich verklemmt hatte. »Aimee« schrie er über die Schulter, »ich bin gleich wieder da. Halte durch.« Wieder drückte er auf den Knopf, und diesmal löste sich der Gurt. Mit beiden Händen zog Ross die bewusstlose Fahrerin aus dem Wrack. Er schleifte sie über den Boden, bis zum Waldrand, und dann ging der Wagen in Flammen auf.

Sirenen näherten sich, Wasser aus einem Feuerwehrschlauch wurde gegen das Auto gespritzt. Als ein Sanitäter angelaufen kam, hielt Ross ihn fest. »Bei dem anderen Auto liegt eine Frau, die Hilfe braucht«, schrie er ihn an.

»Um die kümmert sich schon jemand.« Der Sanitäter ging neben Ross in die Knie. »Wie heißt die Frau hier?«