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Ross wusste es nicht. Sie war eine Fremde. Er blickte nach unten auf den von Flammen erhellten, ausgestreckten Körper, so wie er es neun Jahre zuvor getan hatte. Genau wie damals hatte die Fahrerin eine klaffende Wunde am Haaransatz, und Blut bedeckte ihr Gesicht und das schwarze Kleid. Aber diesmal nahm er ihr Gesicht wahr – richtig wahr –, und alles war anders. Mein Gott. »Sie heißt Meredith«, sagte Ross tonlos.

F. Juniper Smugg war seit genau siebenundzwanzig Tagen Assistenzarzt im Fletcher Allen Hospital in Burlington. Zurzeit arbeitete er in der Notaufnahme, aber irgendwann wollte er in die Dermatologie oder die plastische Chirurgie, wo es nicht ständig um Leben und Tod ging, irgendwann wollte er eine eigene Praxis aufmachen und sich nicht mit den Unvorhersehbarkeiten eines Provinzkrankenhauses herumschlagen müssen. Aber solange er hier war, würde er natürlich seine Pflicht tun. Deshalb machte es ihm auch nichts aus, den Toten runter in die Leichenhalle zu bringen. Immer noch besser als das, was sie mit dem Kerl angestellt hatten, als er eingeliefert wurde – Elektroschocks und Intubation, wo doch jeder Laie hätte sehen können, dass der Patient mausetot war.

Er war allein im Fahrstuhl. Er drückte auf den Knopf, wartete, bis die Tür geschlossen war, und fing an, einen ABBA-Song zu schmettern, wobei er sich in der verspiegelten Wand beobachtete. Er war gerade beim Refrain von Dancing Queen, als eine Hand seinen Arm packte.

Der Tote auf der Trage richtete sich auf. »Das ist ja nicht zum Aushalten«, sagte er heiser.

Als die Fahrstuhltür sich öffnete, stand der Tote, und der Assistenzarzt hing quer über der schmalen Trage. »Kann mir mal jemand helfen?«, fragte Ross die schockierten Mitarbeiter von der Leichenhalle. »Der Kerl hier ist völlig weggetreten.«

Als Az Thompsons Leiche an das Ufer vom Lake Champlain geschwemmt wurde, machte man den Körper nach indianischer Tradition innerhalb von vierundzwanzig Stunden für die Bestattung bereit. Winks Champigny, der als Sprecher für die Abenaki fungierte, schlug vor, Az Thompsons sterbliche Überreste auf dem jüngst erworbenen Besitz an der Kreuzung von Otter Creek Pass und Montgomery Road zur letzten Ruhe zu betten. Er wurde mit dem Gesicht gen Osten beerdigt, auf der Seite, mit Blick auf den Sonnenaufgang.

Fast wäre Eli in der Nacht gar nicht mehr nach Hause gekommen. Der Papierkram und die Beschwichtigungsverhandlungen mit den Steinbruchbesitzern zogen sich endlos hin, und er wollte sich nur noch neben Shelby aufs Bett fallen lassen und erst im nächsten Jahrtausend wieder aufwachen.

Er wusste nur nicht, ob Shelby im Augenblick danach war, ihn oder irgendwen sonst zu sehen.

Er hatte sie im Arm gehalten, während sie im Krankenhaus weinte, bis sie nach Hause hatte gehen wollen, um sich um alles zu kümmern. Eli hatte gespürt, wie sie eine unsichtbare Wand aufbaute und von niemandem Hilfe annehmen wollte, und das hatte ihn völlig fertiggemacht. Er würde jetzt duschen und dann zu ihr fahren, ob ihr das recht war oder nicht.

Als er den Schlüssel in seine Haustür stecken wollte, merkte er, dass sie offen war. Als sie nach innen aufschwang, ging er in Alarmbereitschaft. Aber es war kein Dieb in seiner Küche. Nur Shelby, die Hände in einer Schüssel mit Mehl.

»Ich bin eingebrochen«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Bei einem Polizisten.«

Eli zog sie an sich, küsste sie auf den Scheitel. »Es tut mir so leid. Es tut mir so furchtbar leid.«

Sie weinte, und als sie sich das Gesicht abwischte, hinterließen ihre Finger feine weiße Streifen. »Ich konnte nicht zu Hause bleiben. Ich hab auch noch kein … Bestattungsunternehmen angerufen. Das Telefon stand nicht mehr still, ständig irgendwelche Reporter, ich bin irgendwann gar nicht mehr rangegangen. Die Ärzte im Krankenhaus haben mir für Ethan und Lucy was mitgegeben, damit sie schlafen. Ich hab die beiden oben in dein Bett gepackt. Ich hab Suppe gekocht. Und Brot gebacken. Das Telefon hat einmal geklingelt, aber ich bin nicht … Ich hab den Hund für dich gefüttert.«

Sie sprach völlig wirr, und doch verstand Eli jedes Wort. Er wiegte sie in seiner Umarmung und stellte sich ihre kleinen weißen Handabdrücke hinten auf seinem Jackett vor, so geisterhaft wie die in dem Badezimmerspiegel im alten Pike-Haus. Shelby wischte sich die Nase an seinem Hemd ab. »Ich geh wieder, wenn du willst.«

»Geh nicht«, flüsterte er, »nie mehr.«

Meredith sah ganz anders aus als Lia. Ross verstand überhaupt nicht, wieso er jemals eine Ähnlichkeit zwischen den beiden gesehen hatte.

Sie lag in einem Streckverband. Man hatte das gebrochene Bein gerichtet und fixiert. Außerdem war sie vollgepumpt mit Schmerzmitteln. Man hatte Ross nur deshalb erlaubt, zu ihr zu gehen, weil keiner einem Mann etwas abschlagen wollte, der noch Stunden zuvor tot gewesen war.

Er hatte zuerst nach Shelby und Ethan gesucht, aber sie waren schon entlassen worden und hatten Lucy mitgenommen. Doch als Ross bei ihr zu Hause anrief, meldete sich niemand, und der Anrufbeantworter war abgeschaltet. Er hätte bei Eli angerufen, aber ihm fiel die Privatnummer nicht ein, falls er sie überhaupt je gewusst hatte. Der Neurologe, der Ross untersucht hatte, nachdem seine Kopfverletzungen genäht worden waren, hatte ihm gesagt, dass er mit Gedächtnislücken rechnen müsse und dass es ungewiss sei, ob sich das irgendwann wieder geben würde. So konnte er sich beispielsweise absolut nicht erinnern, was er alles getan hatte, bevor er nach Hause gekommen war und Meredith in der Küche angetroffen hatte, während sie verzweifelt versuchte, Shelby zu erreichen. Er wusste nicht, woher die dünnen, weißen Narben an seinem Handgelenk stammten.

Aber an Lias Gesicht erinnerte er sich. Er hätte dafür sterben können, es wiederzusehen, und anscheinend war er auch dafür gestorben. Er konnte ihr Bild heraufbeschwören, das von ihr und das von Aimee, als stünden die beiden nur einen Meter von ihm entfernt. Ross wusste, dass er dort hätte bleiben können – wo immer er gewesen war. Aber noch größer als der Wunsch, Aimee in seinen Armen zu halten, Lia überallhin zu folgen, wohin sie ihn führte … war der Wunsch gewesen, bei seiner Schwester zu bleiben. Seinem Neffen. Vielleicht Meredith.

Ross hatte so viele Jahre nach irgendetwas gesucht, und nie zuvor war ihm klar gewesen, dass das Finden vielleicht nicht so wichtig war wie die Suche. Ein Leben wurde nicht durch den Augenblick des Todes bestimmt, sondern durch all die anderen Augenblicke, die man gelebt hatte.

Während er noch Meredith’ Gesicht betrachtete, rann plötzlich eine Träne über ihre Wange. Ihre Augen öffneten sich einen Spalt, und sie sah Ross an. »Lucy«, flüsterte sie.

»Es geht ihr gut.«

Als Meredith klar wurde, wo sie war, fuhr sie erschrocken zusammen. »Du bist ein Geist.«

Er musste lächeln. »Nicht mehr.«

»Das Dynamit ist in deiner Hand explodiert. Ich hab’s gesehen«, sagte sie. Und dann fügte sie leiser hinzu: »Die haben mir gesagt, dass du tot bist.« Sie wollte sich aufrecht hinsetzen, doch als sie ihr Bein dabei leicht bewegte, verdrehte sie vor Schmerzen die Augen.

»Bleib ganz ruhig liegen.« Er betrachtete ihr Gesicht, die feine Narbe am Haaransatz, die er zuvor nicht bemerkt hatte. »Du hast dir das Bein gebrochen, das du dir schon mal gebrochen hattest, bei einem Autounfall. An sechs Stellen. Wadenbein und Schienbein waren zertrümmert und wurden genagelt.«

»Ich hab dir nie erzählt«, sagte Meredith argwöhnisch, »dass ich mal einen Autounfall hatte.«

Er setzte sich auf die Bettkante. »Du saßest in einem grünen Honda und hattest ein schwarzes Kleid an«, sagte Ross leise. »Du hattest da eine Wunde.« Er berührte die Stelle an ihrer Stirn. »Deine Schuhe sind nie gefunden worden.«

»Du willst mir doch hoffentlich nicht erzählen, dass du auch übersinnliche Fähigkeiten hast«, sagte Meredith schwach.