»Nein«, erwiderte Ross. »Ich will dir erzählen, dass ich dabei war.«
Er blickte sie an, bis ihre Augen sich kaum merklich weiteten. »Zwei Mal«, sagte sie benommen und griff nach seiner Hand. Ihre Lider senkten sich. »Supermann.«
Er wartete, bis Meredith’ Atem ruhig und gleichmäßig ging, dann schlossen sich seine Finger um ihre. »Vielleicht«, gab er zu.
In den letzten vier Wochen war Lucy eine richtige Draufgängerin geworden. Andauernd kletterte sie auf irgendwelche Dächer, streckte während der Fahrt den Kopf zum Autofenster hinaus und fürchtete sich auch nicht vor Gruselfilmen. Ethan wusste, dass es seine Schuld war. Der Psychoonkel, der sie beide wegen etwas behandelte, das sich Posttraumatische Belastungsstörung nannte, meinte, das sei nur eine Reaktion auf ein Sterbeerlebnis. Aber Ethan wusste es besser.
Er zog die langen Ärmel seines Sweatshirts nach unten und die Baseballmütze tiefer ins Gesicht. Hier vor dem Krankenhaus fühlte er sich nicht wie ein Mutant, weil andere Leute mit allen möglichen Schläuchen und Beuteln am Leib herumliefen. Außerdem war er sowieso nicht mehr die Hauptattraktion der Familie. Diese Ehre gebührte jetzt seinem Onkel Ross, den man für klinisch tot erklärt hatte und der aller Welt davon erzählen konnte.
Es ging ihm gut, das hatte er zumindest per Liveschaltung aus seinem Krankenhauszimmer in allen möglichen Talkshows erzählt. Er war einen Monat lang medizinisch beobachtet und untersucht worden und wurde heute entlassen. Genau wie Meredith. Seine Mom und Eli waren reingegangen, um die beiden abzuholen.
Ethan hatte seinen Onkel oft im Krankenhaus besucht, und sie hatten manchmal lange miteinander geredet, denn auch wenn Ethan sich nicht zu große Hoffnungen machen wollte, irgendwie fragte er sich doch unwillkürlich, ob diese Art von Glück etwas Einmaliges war. Oder ob es vielleicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werden konnte.
Bei seinem letzten Besuch durfte er den ganzen Waldmeisterpudding und die Nudelsuppe von seinem Onkel aufessen, und dann waren sie zusammen in Meredith’ Zimmer gegangen. Sie hatte Ethan erklärt, dass seine DNA sich zwar nicht selbst reparieren könne, dass aber irgendwelche Wissenschaftler in New York eine Salbe erfunden hätten, mit der sich der bereits entstandene Schaden an der DNA beheben ließe. Und in ihrem eigenen Labor waren Leute dabei, eine Gen-Ersatz-Therapie zu entwickeln, mit der XP sogar dauerhaft geheilt werden könnte.
Ethan wäre der Letzte, der behaupten würde, dass es nicht doppelte Wunder gab. Lag ja schließlich in der Familie.
»He, guck mal.« Lucy stieß ihm den Ellbogen in die Seite und zeigte zum Himmel. »Irre, was?«
Es war ein doppelter Regenbogen, einer unter dem anderen. Aber man konnte nur die linke Hälfte sehen, die sich bis zur Mitte des Himmels wölbte und dann in einem schmuddeligen Blau verschwand.
Ethan wusste, dass die rechte Seite des Regenbogens da war, auch wenn er und Lucy sie nicht sehen konnten. Das war kein Wunschdenken oder Zauberei, sondern ein einfaches Naturgesetz. Wenn man nämlich weiß, dass ein Teil von etwas existiert, liegt es doch wohl auf der Hand, dass der Rest davon auch irgendwo sein muss.
Meine Geschichte hinter
»Zeit der Gespenster«
Jodi Picoult im Interview
Ihr neues Buch behandelt ein sehr hässliches Kapitel amerikanischer Geschichte und eines, das wahrscheinlich nicht sonderlich bekannt ist: Vermonts Eugenik-Projekt der 1920er- und 30er-Jahre. Erzählen Sie uns von diesem Projekt und wie Sie davon erfahren haben.
Ich muss zugeben, dass ich durch Zufall davon erfahren habe. Ich hatte ursprünglich vor, eine Geistergeschichte zu schreiben, und meine Suche nach einem fiktionalen Geist führte mich zu den Abenaki-Indianern in Vermont, die gegen die Bebauung des Landes protestieren, weil sie behaupten, es sei ein ehemaliger Friedhof. Ich habe angefangen mich ein wenig mit den Abenaki zu beschäftigen und habe einen Artikel gefunden, in dem das Vermont Eugenik Projekt und seine Auswirkungen auf die Abenaki diskutiert wird. Je mehr ich las, desto fassungsloser war ich – in den 1920er- und 30er-Jahren hat in Burlington, Vermont, eine Gruppe fortschrittlich denkender Wissenschaftler, Ärzte, Juristen und Universitätsprofessoren entschieden, den bäuerlichen Charme der Gegend zu erhalten, indem sie beschlossen, die Leute, die nicht ins Bild passten, einfach loszuwerden. Konkret: Menschen mit dunkler Hautfarbe, Protestanten. Sie gaben eine Studie in Auftrag, die besagte, dass die sogenannten »degenerierten« Familien wegen mehrmaligen Aufenthalten in Armenhäusern, Psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen ein negativer Wirtschaftsfaktor seien. Oftmals waren das Abenaki, Kanadier aus dem französischen Teil des Landes und Bedürftige. Schließlich wurde ein Gesetz verabschiedet, das die freiwillige Sterilisierung der genannten Gruppen stützte. Leider hatte »freiwillig« nur wenig mit freiem Willen zu tun. In vielen Fällen mussten nur zwei Ärzte unterschreiben, um das Ganze in die Wege zu leiten. Hunderte von Abenaki und andere wurden sterilisiert, bevor die Finanzierung in den spätern 1930er-Jahren eingestellt wurde – dank der Nazis, die das amerikanische Eugenikprogramm als Grundlage für ihre eigenen Pläne der Rassenhygiene bezeichneten.
Die aktuelle Debatte über die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, über Klonen und Genersatztherapie, behandelt viele derselben Fragen, die vor Jahren von den Fürsprechern der Eugenik aufgeworfen wurden. Ich wollte den Gedanken durchspielen, dass alle Dinge im Leben zurückkehren, um uns heimzusuchen – die Geschichte eingeschlossen. Und ich wollte zeigen, dass die Wissenschaftler der 1920er und 30er Jahre keine bösen Dr. Frankensteins waren, sondern vielmehr fortschrittsgläubige Denker, die wirklich meinten, das Richtige zu tun. Zur gleichen Zeit wollte ich die Menschen daran erinnern, dass die Wissenschaft, auch wenn sie mess- und überprüfbar ist, doch nichts ist, an das wir vorbehaltlos glauben sollten. Ohne mir in diesem Buch über die Eugenik oder die Abenaki ein Urteil anmaßen zu wollen, glaube ich, dass die Menschen es einfach verdienen zu wissen, was geschehen ist … auch wenn es in eine fiktionale Erzählung verpackt wurde.
Wie konnte Vermont dieses Eugenik Projekt so lange geheim halten? Gab es vergleichbare Projekte in anderes Teilen des Landes?
Ich würde nicht sagen, dass Vermont diese Projekte verheimlicht hat. Ich denke vielmehr, dass sie einfach irgendwie auf der Strecke geblieben sind. Sobald der Geldhahn abgedreht war, gab es niemanden mehr, der für die Sache der Eugenik vor Gericht gegangen wäre. Und ich nehme an, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg ein gewisses Unbehagen gab, beim Gedanken daran, diese Geschehnisse zu diskutieren. Jedenfalls wurden die Listen mit den Stammbäumen der betroffenen Familien und die übrigen Dokumente jahrelang vergessen, bis sie von einem Mann namens Kevin Dann ausgegraben wurden, einem Historiker aus Vermont. Und die traurige Wahrheit ist, dass mehr als die Hälfte der amerikanischen Staaten irgendwann ein Sterilisierungs-Gesetz in ihre Gesetzbücher aufgenommen hatten.
In Vermont hat sich übrigens nie jemand entschuldigt. Und weil das nördliche Neuengland einer dieser Landstriche ist, dessen Bewohner nicht unbedingt dafür bekannt sind, viel herumzukommen, leben die Nachfahren beider Gruppen, sowohl der Fürsprecher der Eugenik-Bewegung wie ihrer Opfer, noch immer in unmittelbarer Nachbarschaft. Einige Familien der Wissenschaftler empfinden sowohl Scham als auch Wut, Wut darüber, dass ihre Verwandten nicht selten als böse und größenwahnsinnig dargestellt werden. Einige Abenaki-Familien haben mit der Sache abgeschlossen, sie sind verbittert und ziehen es vor, keine alten Wunden aufzureißen. Aus diesen und anderen Gründen war es für beide Gruppen einfacher, die Ereignisse unter den sprichwörtlichen Teppich zu kehren, statt sie ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.