Ich erinnerte mich an Gödel und seine Träume von der Letztgültigen Welt. »Ich weiß nicht, wie weit das gehen kann«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich kann es mir nicht einmal vorstellen.«
Ihr Gesicht war meinem ganz nah, und ihre Augen waren wie schwarze Löcher in dem schwindenden Licht. »Dann«, empfahl sie mir, »müssen Sie Weiterreisen und es herausfinden. Stimmt's?« Sie rückte näher, und meine Hand verstärkte den Griff um die ihre, und ihr Atem strich warm über meine Wange.
Ich verspürte eine Starre an ihr — eine Zurückhaltung, die zu überwinden sie gewillt schien, und sei es mit schierer Willenskraft. Ich berührte ihren Arm, spürte vernarbtes Fleisch, und ein Schauer durchlief sie, als ob ich Finger aus Eis hätte. Aber dann umklammerte sie meine Hand und hielt sie gegen ihren Arm. »Sie müssen mir verzeihen«, sagte sie. »Nähe fällt mir schwer.«
»Warum? Wegen der Verantwortung deiner Position?«
»Nein«, meinte sie, und ihr Ton ließ mich dumm und tölpelhaft erscheinen. »Wegen des Krieges. Wegen all jener, die gegangen sind… Manchmal kann ich nur schwer einschlafen. Man leidet jetzt, nicht damals — und das ist die Tragik der Sache. Du spürst, daß du nicht vergessen kannst — und daß du eigentlich kein Recht hast, noch am Leben zu sein. Wenn du uns, die wir gefallen sind, die Treue aufkündigst/ Wir werden nicht schlafen, wo der Mohn blüht/ Auf Flanderns Feldern…«
Ich zog sie näher an mich heran, und sie schmiegte sich an mich, ein zerbrechliches, verwundetes Wesen.
»Warum, Hilary? Warum jetzt?« flüsterte ich im letzten Moment.
»Genetische Vielfalt«, erwiderte sie mit erstickender Stimme. »Genetische Vielfalt…«
Und dann reisten wir weiter — nicht ans Ende der Zeit — sondern zu den Grenzen unseres Menschseins, dort an der Küste dieses Urmeeres.
Als ich erwachte, war es noch dunkel, und Hilary war fort.
Ich erreichte unser altes Lager im hellen Tageslicht. Nebogipfel nahm kaum Notiz von mir durch seine Maske, als ich eintrat; offensichtlich überraschte ihn meine Entscheidung genauso wenig wie Hilary.
Das Zeitfahrzeug war fertig. Es war ein Kasten mit einer Seitenlänge von etwa fünf Fuß, und überall sah ich Fragmente eines mir unbekannten Metalls: das mußten wohl Teile der Messerschmitt sein, die der Morlock geborgen hatte. Da war eine Bank, die aus dem Holz eines Dipterocarps zusammengestoppelt worden war, und ein kleines Instrumentenbord — ein primitives Teil mit Schaltern und Knöpfen —, an dem der blaue Kippschalter prangte, den Nebogipfel aus unserem ersten Zeitfahrzeug gerettet hatte.
»Ich habe ein paar Kleider für dich«, sagte Nebogipfel. Er hielt Stiefel in die Höhe, ein Twillhemd und eine Hose, alles in gutem Zustand. »Ich glaube nicht, daß unsere Kolonisten sie vermissen werden.«
»Danke.« Ich hatte bisher eine Fellhose getragen, die ich jetzt schnell wechselte.
»Wohin willst du?«
Ich zuckte die Achseln.
»Nach Hause. 1891.«
Er verzog das Gesicht. »Ist in der Multiplizität verloren.«
»Ich weiß.« Ich kletterte in die Konstruktion. »Laß uns erstmal in die Zukunft reisen und sehen, wohin es uns verschlägt.«
Ich warf einen letzten Blick auf das Meer des Paläozäns. Ich dachte an Stubbins, den zahmen Diatryma und die morgendlichen Lichtreflexe des Meeres. Ich wußte, daß ich dem Zustand des Glücks hier sehr nahe gekommen war — einer Zufriedenheit, die ich mein ganzes Leben nicht gefunden hatte. Aber Hilary hatte recht: es war noch nicht genug.
Ich verspürte noch immer dieses starke Heimweh; etwas in mir zog mich auf dem Fluß der Zeit entlang, das wohl so stark wie der Instinkt war, der einen Lachs zu seinen Laichgründen zurücklotste. Aber ich wußte, was auch Nebogipfel schon gesagt hatte, daß nämlich mein 1891, diese gemütliche Welt von Richmond Hill, in der Multiplizität verloren war.
Nun: wenn ich schon nicht nach Hause konnte, würde ich weitergehen: Ich würde dieser Straße folgen, bis an ihr Ende!
Nebogipfel schaute mich an. »Bist du bereit?«
Ich bin kein Freund langer Abschiedszeremonien.
»Ich bin soweit.«
Nebogipfel kletterte vorsichtig in die Maschine, wobei er auf sein schlecht gerichtetes Bein achtgab. Ohne weitere Umschweife griff er nach den Instrumenten und legte den blauen Kippschalter um.
Lichter am Himmel
Flüchtig nahm ich noch zwei Leute wahr — einen Mann und eine Frau, beide nackt — die über den Strand rannten. Ein Schatten fiel kurz über das Fahrzeug, der vielleicht von einem der riesigen Tiere dieses Zeitalters geworfen wurde; aber bald waren wir schon zu schnell, um solche Details noch erkennen zu können, und wir stürzten in das farblose Wallen der Zeitreise.
Die intensive Sonne des Paläozäns sauste über den Himmel, und ich stellte mir vor, wie die Erde sich aus unserer Perspektive als Zeitreisende wie ein Kreisel um ihre Achse drehte und um ihren Stern raste. Auch der Mond war als eine sich rapide bewegende Scheibe zu erkennen, die durch das Flackern der Mondphasen verwaschen wirkte. Bald verwandelte sich der tägliche Lauf der Sonne in ein silbernes Lichtband, das sich zwischen den Begrenzungen des Äquinoktiums erstreckte, und Tag und Nacht verschmolzen zu dem diffusen blaugrauen Glühen, das ich schon früher beschrieben habe.
Die Dipterocarps-Bäume des Waldes zitterten im Lebenszyklus und wurden vom ungestümen Wachstum jüngerer Pflanzen verdrängt; aber die Szenerie um uns herum — der Wald, das durch unsere Zeitreise zu einer glasigen Ebene erstarrte Meer — blieb in ihren Grundzügen statisch, und ich fragte mich, ob die Menschheit trotz meiner und Nebogipfels Bemühungen letztlich doch nicht im Paläozän hatte überleben können.
Dann — plötzlich — starb der Wald und verschwand.
Es war, als ob eine grüne Decke von der Erde gerissen worden wäre. Aber das Land veränderte sich wieder; kaum war der Wald verschwunden, überzog eine Mischung aus regelmäßigem Braun und Grau — die Gebäude des sich ausdehnenden Alt-Londons — die Erde. Die Stadt expandierte über die abgeholzten Hügel und an uns vorbei hinunter zum Meer, wo Docks und Hafenanlagen entstanden. Die einzelnen Konstruktionen erzitterten und vergingen so schnell wieder, daß wir fast kaum folgen konnten, obwohl ein oder zwei Bauten lange genug bestanden — es müssen wohl einige Jahrhunderte gewesen sein — und fast dunkel wurden, wie grobe Umrisse. Die See verlor ihren blauen Farbton und mutierte zu einer schmutzig-grauen Fläche, wobei wir auf unserer Reise ihre Wellen und Gezeiten nur verschwommen wahrnahmen; die Luft schien einen Stich ins Bräunliche bekommen zu haben, wie der Londoner Nebel von 1890, was die Szenerie in einem düsteren Zwielicht glühen ließ, und die Atmosphäre hatte sich erwärmt.