Erstaunlicherweise wandelte sich im Lauf der Jahrhunderte, ungeachtet des Schicksals einzelner Gebäude, das allgemeine Bild der Stadt nicht. Ich stellte fest, daß das Band des mitten durch die Stadt fließenden Flusses — die Proto-Themse — und die Narben der Hauptstraßen sich im Zeitablauf grundsätzlich nicht veränderten: es war eine eindrucksvolle Demonstration, wie die Geomorphologie, die Gestalt der Landschaft, die menschliche Geographie dominiert.
»Unsere Kolonisten haben offenbar überlebt«, sagte ich zu Nebogipfel. »Sie haben sich zu einer Rasse Neuer Menschen entwickelt, und sie verändern ihre Welt.«
»Ja.« Er schob seine aus Fell geschneiderte Maske zurecht. »Aber bedenke, daß wir mit einer Geschwindigkeit von einigen Jahrhunderten pro Sekunde reisen; wir befinden uns mitten in einer Stadt, die schon ein paar tausend Jahre existiert. Ich bezweifele, daß von dem Alt-London, dessen Gründung wir erlebt hatten, noch viel übrig ist.«
Neugierig blickte ich mich um. Meine kleine Gruppe Exilanten mußte bereits so weit von diesen Neuen Menschen entfernt sein wie die Sumerer von 1891. Ob in dieser großen und quirligen Zivilisation wohl noch irgendwelche Erinnerungen an die Anfänge der menschlichen Rasse in diesem antiken Zeitalter existierten?
Dann registrierte ich eine Veränderung am Himmeclass="underline" ein merkwürdiges, grünlich flackerndes Licht. Bald realisierte ich, daß das der Mond war, der noch immer die Erde umkreiste und dessen Phasen sich im alten Zyklus so schnell abspulten, daß ich sie nicht verfolgen konnte — aber die Oberfläche dieses geduldigen Trabanten war jetzt grün und blau gefleckt — die Farben der Erde und des Lebens.
Ein besiedelter, erdähnlicher Mond! Diese Neue Menschheit war offensichtlich mit Raumschiffen zu ihrer Schwesterwelt geflogen, hatte sie terraformt und kolonisiert. Vielleicht hatten sie sich zu einer Spezies von Mond-Menschen verwandelt, so groß und spindeldürr wie die Niedergravitations-Morlocks, denen ich im Jahre 657208 begegnet war! Natürlich konnte ich keine Details erkennen, weil der monatelange Orbit des Mondes aus meiner Perspektive zu einem rasend schnellen Umlauf verdichtet wurde; ich bedauerte das, denn ich hätte gerne mit einem Teleskop die neuen Ozeane beobachtet, die in diesen tiefen, alten Kratern schwappten, und die Wälder, die sich über die großen Mondmeere erstreckten. Wie wäre es wohl, auf diesen felsigen Ebenen zu stehen — abgeschnitten von Mutter Erdes Schürzenzipfeln? Bei jedem Schritt in dieser verminderten Schwerkraft würde man durch die dünne, kalte Luft fliegen, wobei die Sonne kraftvoll und unbeweglich am Himmel hing; es wäre wie eine Traumlandschaft, dachte ich mir, in diesem hellen Schein, wo die Pflanzen noch fremdartiger waren als die irdischen Gewächse, die auf dem Meeresgrund zwischen den Felsen sprossen…
Nun, es war ein Anblick, den ich nie erleben sollte. Mit Mühe riß ich mich aus meinen Mondphantasien und konzentrierte die Aufmerksamkeit wieder auf unsere Situation.
Jetzt bewegte sich etwas am westlichen Himmel, tief am Horizont: vereinzelte Lichter flackerten auf, hüpften über den Himmel und nahmen dann eine feste Position ein, um dort für lange Jahrtausende zu verharren. Bald war eine ganze Ansammlung dieser Funken beisammen, und sie verdichteten sich zu einer Art Brücke, die sich zwischen den Horizonten über den Himmel spannte; an ihrem höchsten Punkt zählte ich etliche Dutzend Lichter in dieser Himmelsstadt.
Ich machte Nebogipfel darauf aufmerksam. »Sind das Sterne?«
»Nein«, erwiderte er gleichmütig. »Die Erde dreht sich noch immer, und die echten Sterne sind wohl zu verhangen, um sichtbar zu sein. Die Lichter, die wir sehen, hängen in einer stationären Position über der Erde…«
»Was stellen sie dann dar? Künstliche Monde?«
»Vielleicht. Sie sind sicher von Menschenhand dort errichtet worden. Diese Objekte können künstlich sein — aus Material konstruiert, das von der Erde hochgeschafft wurde, oder vom Mond, dessen Gravitationsquelle viel schwächer ist. Aber es können auch natürliche Objekte sein, die mit Raketen an ihre Positionen rund um die Erde gebracht wurden: eingefangene Asteroiden oder Kometen vielleicht.«
Ich starrte mit der gleichen Ehrfurcht auf diese Lichter, mit der ein Höhlenmensch das Licht eines Kometen beäugt haben mochte, der über seinen nach oben gerichteten, dumpfen Schädel hinwegzog!
»Welchen Zweck könnten solche Raumstationen denn haben?«
»Ein solcher Satellit ist wie ein über der Erde fixierter Turm mit einer Höhe von zweiundzwanzig-tausend Meilen…«
Ich schnitt eine Grimasse. »Welch ein Anblick. Man könnte darin sitzen und die meteorologische Entwicklung einer Erdhälfte überwachen.«
»Oder die Station könnte für die Übermittlung telegraphischer Nachrichten von einem Kontinent zum anderen genutzt werden. Oder, noch radikaler, könnte man sich die Auslagerung großer Industriebetriebe — Schwerindustrie oder Energieerzeugung vielleicht — in die relative Sicherheit der Erdumlaufbahn vorstellen.«
»Aber könnte eine solche Orbital-Industrie denn überhaupt wirtschaftlich arbeiten?«
»Sicherlich — selbst in Anbetracht der knappen Budgets, die das Denken deines Jahrhunderts prägten«, bestätigte er. »Eine derartige Entwicklung bedingt zwar hohe Kapitalkosten, aber sie könnte sich schon nach wenigen Jahrzehnten amortisiert haben. Und längerfristig ist die Auslagerung der Schwerindustrie weg von der Erde ohnehin notwendig, wenn das Wirtschaftswachstum der Menschheit gesichert werden soll.«
»Wie das?«
Er öffnete die Hände. »Du erkennst selbst die Verschmutzung der Luft und des Wassers um uns herum. Die Erde verfügt nur über eine beschränkte Kapazität, die industriellen Abfallprodukte zu absorbieren, und irgendwann könnte der Planet deswegen sogar unbewohnbar werden.
Im Orbit hingegen wären dem Wachstum praktisch keine Grenzen gesetzt: denke dabei nur an die Sphäre, die meine Spezies konstruiert hat.«
Die Orbitalstadt
Die Temperatur stieg mit zunehmender Luftverschmutzung an. Nebogipfels improvisiertes Zeitfahrzeug funktionierte zufriedenstellend, war aber schlecht kalibriert und schaukelte und schüttelte sich. Ich klammerte mich völlig erledigt an der Bank fest, denn die Kombination aus Hitze, der Schaukelei und dem üblichen, durch die Zeitreise hervorgerufenen Schwindelgefühl verursachte mir starke Übelkeit.
Die um den Äquator verlaufende Orbitalstadt entwickelte sich weiter. Ich sah, daß die zunächst chaotische Konfiguration dieser künstlichen Lichter jetzt bedeutend regelmäßiger war. Nun gab es eine aus sieben oder acht Stationen bestehende Kette, die alle hell strahlten und in gleichmäßigen Abständen um den Globus verteilt waren; ich vermutete, daß hinter dem Horizont noch mehr solcher Stationen positioniert waren, die sich in stetem Umlauf um den Äquator des Planeten befanden. Offensichtlich war die Orbitalstadt in ein neues Entwicklungsstadium eingetreten.
Nun wuchsen dünne Lichtfäden aus den glühenden Stationen und griffen wie zögernde Finger nach der Erde. Die Bewegungen waren gleichförmig und so langsam, daß wir sie mitverfolgen konnten, und ich erkannte, daß ich Zeuge gigantischer Bauprojekte wurde — Projekte, die sich über Tausende von Meilen durch den Raum erstreckten und ganze Jahrtausende umfaßten — und Ehrfurcht überkam mich angesichts der Energie und der Fähigkeiten der Neuen Menschen.
Nach einigen Sekunden tauchten die ersten dieser Lichtfäden unter den nebelverhangenen Horizont. Dann verschwand ein solcher Faden, und die Station, von der er ausgeschickt worden war, wurde wie ein Kerzenlicht in einer Brise ausgelöscht. Offenbar war der Faden heruntergefallen oder abgerissen, und seine Ankerstation war zerstört worden. Ich betrachtete die bleichen, lautlosen Bilder und fragte mich, welchen immensen Schaden — und wieviele Tote — sie wohl repräsentierten! Nach wenigen Augenblicken füllte jedoch eine neue Station die Lücke in der Äquatorialkette aus, und ein neuer Faden wurde abgewickelt.