Ein Winkel meines versagenden Gehirns veranlaßte mich, nach der Quelle des silbrigen ›Mondlichts‹ zu suchen, denn es spiegelte sich jetzt an der Wandung des Zeitfahrzeugs, die sich bereits mit einer Eisschicht überzog. Wenn der Mond noch immer grün war, konnte er nicht der Ursprung dieses elfenhaften Glühens sein. Was also dann?
Mit letzter Kraft hob ich den Kopf. Und da, weit über mir am sternenlosen Himmel, hing eine glühende Scheibe: ein schimmerndes, hauchzartes Gebilde, das wie eine Spinnwebe wirkte und ein dutzendmal größer als die Scheibe des Vollmonds war.
Und auf der Eisfläche hinter dem Zeitfahrzeug stand geduldig…
Ich konnte es nicht erkennen; ich fragte mich, ob meine Augen wirklich den Dienst quittierten. Es war pyramidenförmig, etwa mannshoch, aber seine Konturen waren verschwommen, als ob es sich in ständiger insektenhafter Wallung befinden würde.
»Bist du lebendig?« wollte ich diese häßliche Vision fragen. Aber mein Hals war wie zugeschnürt, meine Stimme eingefroren, und ich konnte keine Fragen mehr stellen.
Schwärze umfing mich, und die Kälte fiel endlich von mir ab.
Fünftes Buch
Weisse Erde
Gefangen
Ich öffnete die Augen, oder vielmehr hatte ich den Eindruck, daß meine Augenlider hochgezogen oder vielleicht auch abgeschnitten wurden. Meine Sicht war trübe, die Wahrnehmung der Welt gebrochen; ich fragte mich, ob meine Augäpfel vereist wären — vielleicht sogar ganz gefroren. Ich starrte zu einem willkürlichen Punkt am dunklen, sternenlosen Himmel; an der Peripherie des Blickfeldes sah ich einen Hauch von Grün — vielleicht der Mond? — aber ich konnte mich nicht bewegen, um es genau festzustellen.
Ich atmete nicht. Im nachhinein sagt sich das leicht, aber es ist schwer, die Panik zu vermitteln, die ich bei der Feststellung dieses Sachverhalts spürte! Ich fühlte mich, als ob ich mich außerhalb meines Körpers befinden würde; es fehlte jegliche mechanische Aktivität — die Bewegung des Atems und das Klopfen des Herzens, die millionenfachen winzigen Zuckungen von Muskeln und Membranen — die alle, ohne daß sie überhaupt wahrgenommen werden, das Korsett unseres menschlichen Lebens bilden. Es war, als ob mein ganzes Sein, meine ganze Identität, sich in diesem offenen, starrenden, fixierten Blick verdichtet hätte.
Ich dachte mir, daß ich eigentlich hätte Furcht verspüren und wie ein Ertrinkender nach Luft schnappen müssen. Aber kein derartiger Drang überkam mich: ich fühlte mich nur schläfrig, kaum meiner Sinne mächtig, als ob ich narkotisiert worden wäre.
Ich glaube, daß es dieses Fehlen des Schreckens war, das mich davon überzeugte, tot zu sein.
Jetzt bewegte sich ein Schatten über mir und verstellte mir die Sicht auf den leeren Himmel. Es war annähernd pyramidenförmig, mit unscharfen Kanten; es war wie ein in Wolken gehüllter Berg, der mich überragte.
Natürlich erkannte ich diese Erscheinung wieder: es war das Ding, das vor mir gestanden hatte, als wir exponiert auf dem Eis lagen. Jetzt kam diese Maschine — das mußte sie in meinen Augen nämlich sein — auf mich zu. Sie bewegte sich auf eine seltsam fließende Art; wenn man sich vorstellt, wie die Sandkörner beim Kippen einer Sanduhr strahlförmig rieseln, kann man den Effekt ungefähr erahnen. Am Rande meines Blickfeldes sah ich, wie die verschwommene Kante der Maschine über meinen Bauch und die Brust glitt. Dann spürte ich, wie ein anhaltendes Prickeln — winzige Stiche — durch Brust und Bauch verlief.
Die Körperreaktionen hatten also wieder eingesetzt! — und zwar so blitzartig wie ein Gewehrschuß. Ich spürte ein leichtes Kratzen auf der Brust, als ob die Kleidung dort aufgeschnitten und abgestreift werden würde. Und jetzt wurde das Prickeln intensiver; es war, als ob sich winzige, insektenhafte Objekte in mein Fleisch bohrten und mich kontaminierten. Ich spürte Schmerzen — eine Million winziger Nadeln, die in die Eingeweide stachen.
Soviel zum Tod — soviel zur Körperlosigkeit! Und mit der Erkenntnis meiner fortdauernden Existenz kam auch die Angst zurück — sofort, und in einer großen Flut von chemischen Substanzen, die mich mit großer Intensität durchspülten.
Nun kroch der dräuende Schatten der montanen Kreatur, verwaschen und ominös, weiter über meinen Körper in Richtung des Kopfes. Gleich würde ich ersticken! Ich wollte schreien — aber ich konnte Mund, Lippen und Hals nicht spüren.
Noch nie hatte ich mich auf meinen Reisen so hilflos wie in diesem Augenblick gefühlt.
Im letzten Moment spürte ich, wie etwas über meine Hand glitt. Ich fühlte eine geisterhafte Kälte und einen Haarwuscheclass="underline" es war Nebogipfels Hand, die meine hielt. Ich fragte mich, ob er hier neben mir lag, sogar jetzt, wo diese gespenstische Vivisektion durchgeführt wurde. Ich wollte seine Finger umschließen, konnte aber keinen Muskel bewegen.
Und jetzt erreichte der pyramidenförmige Schatten mein Gesicht, und der freundliche Ausschnitt des Himmels wurde verdeckt. Ich fühlte, wie sich Nadeln in Hals, Kinn, Wangen und Stirn bohrten. Da war ein Prickeln — ein unerträgliches Jucken — auf der Oberfläche meiner exponierten Augen. Ich wollte den Blick abwenden und die Augen schließen, aber es gelang mir nicht: es war die ausgesuchteste Folter, die ich mir nur vorstellen konnte!
Dann, als dieses brennende Feuer sogar meine Augäpfel erfaßte, versank ich in gnädiger Bewußtlosigkeit.
Als ich wieder erwachte, hatte dieser Vorgang nicht mehr die alptraumhafte Qualität wie beim erstenmal. Ich stieg durch eine Schicht aus sonnenbeschienenen Träumen zur Oberfläche der Welt empor: Ich schwamm durch fragmentarische Visionen von Sand, Wald und Ozean: Ich schmeckte erneut feste, salzige Muscheln; und ich lag wieder mit Hilary Bond vereint in Wärme und Dunkelheit.
Dann kam langsam das volle Erwachen.
Ich lag auf einer harten Oberfläche. Mein Rücken, der jegliche Bewegungsversuche mit einem Stechen quittierte, war real genug; genauso wie meine gespreizten Beine, die Arme, die juckenden Finger, das pfeifende Geräusch, mit dem die Nase Luft ansaugte und das Pulsieren des Blutes in den Adern. Ich lag in Dunkelheit — absoluter Finsternis —, aber diese Randnotiz, die mich früher vielleicht erschreckt hätte, schien jetzt völlig belanglos, denn ich weilte wieder unter den Lebenden, umgeben vom vertrauten mechanischen Rasseln meines Körpers. Ich verspürte ein reines und intensives Gefühl der Erleichterung und stieß einen Freudenschrei aus!
Ich setzte mich auf. Als ich die Hand auf den Boden legte, spürte ich dort grobkörnige Partikel, als ob eine härtere Fläche mit Sand bestreut worden wäre. Obwohl ich nur Hemd, Hose und Stiefel anhatte, war mir ziemlich warm. Ich verblieb in völliger Dunkelheit; aber die Echos dieses exaltierten Schreis drangen schnell wieder an mein Ohr, und ich hatte den Eindruck, mich in einem begrenzten Raum zu befinden.
Ich drehte den Kopf hin und her, um ein Fenster oder eine Tür ausfindig zu machen, aber ohne jeden Erfolg. Allerdings registrierte ich jetzt etwas Schweres an meinem Kopf — etwas drückte auf meine Nase — und als ich den fraglichen Bereich abtastete, merkte ich, daß ich eine massive Brille aufhatte, deren Glas nahtlos in das Gestell integriert war. Ich fummelte an diesem klobigen Teil herum — und der Raum erstrahlte in hellem Licht.
Zuerst war ich geblendet und kniff die Augen zusammen. Ich nahm die Brille ab — und das Licht ging aus und ließ mich wieder in der Dunkelheit versinken. Und als ich die Brille wieder aufsetzte, kam auch das Licht zurück.