»Der ›Wind‹ kommt von Strahlen kohärenten Lichts, das von erdgestützten Projektoren mit der Größe ganzer Städte erzeugt wird«, erläuterte er. »Es sind diese Strahlen, die du als ›Fäden‹ zwischen Planet und Segel beobachtet hast. Der Druck des Lichts ist zwar relativ gering, aber konstant, und hat einen sehr hohen Wirkungsgrad — insbesondere dann, wenn man sich der Lichtgeschwindigkeit nähert.«
Er meinte, daß die Konstrukteure nicht als Einzelindividuen in solchen Schiffen reisen würden, wie es Passagiere der großen Schiffe zu meiner Zeit getan hatten. Vielmehr würden sich die Konstrukteure selbst zerlegen, ihre Komponenten ausschwärmen und sich an das Schiff anlagern lassen. Am Zielort würden sie sich dann wieder zusammensetzen, und zwar in einer Form, die den Bedingungen auf der vorgefundenen Welt am ehesten entsprach.
»Aber, was meinst du, wohin mag das Schiff wohl unterwegs sein? Zum Mond, oder einem der Planeten — oder…«
In seiner nüchternen, undramatischen Morlock-Art entgegnete Nebogipfeclass="underline" »Nein. Zu den Sternen.«
Der Multiplizitäten-Generator
Im Laufe der Zeit interessierte sich Nebogipfel zusehends für den Billardtisch. Er verbrachte viel Zeit damit, die Kugel über den Tisch rollen zu lassen. Dabei trat in der Mitte des Tisches wiederholt dieses seltsame Rasseln auf, das mir zuvor schon aufgefallen war, und mehrmals glaubte ich zu sehen, daß Billardkugeln — weitere Kopien unseres Originals — aus dem Nichts erschienen und mit der Bahn unserer Kugel interferierten. Manchmal erschien die Kugel nach diesen Kollisionen wieder und lief auf der Bahn weiter, die sie auch ohne den Zusammenprall verfolgt hätte; manchmal jedoch wurde sie auch auf einen anderen Pfad abgelenkt, und ein paarmal — beobachteten wir die Art von Zwischenfall, den ich schon früher beschrieben hatte, als eine stationäre Kugel von ihrer Position verdrängt wurde, ganz ohne mein oder Nebogipfels Zutun.
Das alles machte das Spiel sehr unterhaltsam — und bei der Sache ging es eindeutig nicht mit rechten Dingen zu, aber beim besten Willen konnte ich nichts Verdächtiges erkennen, trotz des trübe glimmenden Plattnerits in den Taschen. Meine einzige Erkenntnis bestand darin, daß die Wahrscheinlichkeit einer Ablenkung der Kugel von ihrem Ausgangskurs um so größer wurde, je langsamer sie rollte.
Der Morlock indessen engagierte sich immer mehr in dieser Angelegenheit. Er blickte wieder in das Innere des geduldigen Konstrukteurs, tauchte erneut in das Informations-Meer ein und erschien mit einem neuen Wissensfragment, das er ergattert hatte — er nuschelte in seinem unverständlichen, fließenden Dialekt etwas vor sich hin — und dann eilte er schnurstracks zum Billardtisch, um seine neuen Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.
Schließlich schien er bereit, mir seine Hypothesen mitzuteilen; zu diesem Zweck zitierte er mich von meinem Dampfbad weg. Ich trocknete mich mit dem Hemd ab und rannte ihm in das Billardzimmer nach; seine kleinen, schmalen Füße patschten auf den harten Boden, als er im Laufschritt zum Tisch eilte. So aufgeregt hatte ich ihn noch selten gesehen.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was es mit diesem Tisch auf sich hat«, meldete er atemlos.
»Ja?«
»Er ist… — wie soll ich es ausdrücken? — er ist nur ein Vorführgerät, wenig mehr als ein Spielzeug — aber er ist ein Multiplizitäten-Generator. Begreifst du?«
Ich hielt die Hände hoch. »Ich befürchte, daß ich überhaupt nichts begreife.«
»Das Konzept der Multiplen Historien ist dir doch mittlerweile ein Begriff…«
»Das sollte es; es ist ja die Grundlage deiner Erklärung der divergenten Historien, die wir bereits besucht haben.«
In jedem Moment, bei jedem Ereignis (faßte ich zusammen), verzweigt sich die Geschichte. Der Schatten eines Schmetterlings kann hierhin oder dorthin fallen; die Kugel eines Attentäters kann einen Arm streifen und weiterfliegen, ohne Schaden anzurichten, oder mit tödlicher Wirkung das Herz eines Königs durchschlagen… Jedem potentiellen Ausgang eines Ereignisses entspricht eine neue Version der Geschichte. »Und alle diese Historien sind real«, sagte ich, »und — wenn ich es richtig verstehe — sie liegen nebeneinander, in einer gewissen vierten Dimension, wie die Seiten eines Buches.«
»Sehr richtig. Und jetzt begreifst du auch, daß der Einsatz einer Zeitmaschine — einschließlich deines ersten Prototyps — weitere Verzweigungen verursacht und damit neue Historien generiert… von denen manche ohne die Intervention der Maschine nicht möglich gewesen wären — wie diese hier.« Er gestikulierte mit den Händen. »Ohne deine Maschine, die diese ganze Kausalkette ausgelöst hat, hätten die Menschen nie zurück ins Paläozän gelangen können, und wir würden jetzt nicht mit den Folgen einer fünfzig Millionen Jahre dauernden ›intelligenten‹ Modifikation des Kosmos konfrontiert werden.«
»Das ist mir schon klar«, erwiderte ich mit zunehmender Ungeduld. »Aber was hat das nun mit diesem Tisch zu tun?«
»Schau.« Er ließ eine einzelne Kugel über den Tisch rollen. »Das ist unsere Kugel. Wir müssen uns viele Historien vorstellen — einen ganzen Stapel —, durch die sich die Kugel permanent bewegt. Die wahrscheinlichste Historie ist natürlich die mit der klassischen Ballistik — also eine in gerader Richtung über den Tisch rollende Kugel. Daneben existieren jedoch auch noch andere Historien — benachbart, aber grundverschieden. Es ist sogar möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, daß sich in einer dieser Historien die Wärmeenergie der Moleküle der Kugel aufschaukelt, so daß sie in die Luft springt und dir ins Auge fliegt.«
»Na wunderbar.«
»Jetzt…« Er ließ einen Finger über den Rand der nächsten Tasche gleiten. »Diese grüne Einlage ist ein Indiz.«
»Es ist Plattnerit.«
»Ja. Die Taschen wirken wie miniaturisierte Zeitmaschinen — begrenzt in bezug auf Kapazität und Größe, aber dennoch recht effektiv. Und, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, wenn eine Zeitmaschine aktiviert ist — wenn Objekte in die Zukunft oder Vergangenheit reisen und sich selbst begegnen — kann die Kausalität von Ursache und Wirkung zerreißen, und Historien beginnen wie Unkraut zu wuchern…«
Er erinnerte mich an den merkwürdigen Zwischenfall, den wir mit der stationären Kugel erlebt hatten. »An diesem Beispiel kann ich es vielleicht am prägnantesten festmachen. Die Kugel lag ruhig auf dem Tisch — nennen wir sie einmal unsere Kugel. Dann erschien aus einer Tasche eine Kopie unserer Kugel und stieß unsere weg. Unsere Kugel rollte zur Bande, prallte ab und fiel in die Tasche, wobei jetzt die Kopie in genau der gleichen Position wie das Original auf dem Tisch verharrte.
Dann«, ergänzte Nebogipfel langsam, »reiste unsere Kugel in der Zeit zurück — verstehst du? — und tauchte in der Vergangenheit aus der Tasche auf…«
»Und räumte sich dann selbst aus dem Weg und nahm wieder ihre eigene Position ein.« Ich starrte auf den unschuldig wirkenden Tisch. »Verdammt, Nebogipfel — jetzt verstehe ich! Es war wirklich dieselbe Kugel. Sie lag da auf dem Tisch — aber wegen der bizarren Möglichkeiten der Zeitreise konnte sie durch die Zeit springen und sich selbst wegschubsen!«
»Richtig«, bestätigte der Morlock.
»Aber weshalb hat sich die Kugel dann überhaupt erst bewegt? Es hat sie doch keiner von uns in Richtung Tasche angestoßen.«
»Ein ›Stoß‹ war auch gar nicht notwendig«, meinte Nebogipfel. »Im Hinblick auf Zeitmaschinen — und das ist der eigentliche Punkt der Demonstration — mußt du deine bisherigen Vorstellungen von der Kausalität vergessen. Die Dinge liegen nicht so einfach! Die Kollision mit der Kopie war nur eine Möglichkeit für die Kugel, die der Tisch uns gezeigt hat. Verstehst du? Durch eine Zeitmaschine wird die Kausalität so verzerrt, daß sogar eine stationäre Kugel von einer infiniten Anzahl solcher bizarren Möglichkeiten umgeben ist. Deshalb sind deine Fragen nach dem ›wie es begann‹ auch irrelevant: es ist eine geschlossene kausale Schleife — es gab keine Initialisierung.«