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Ich erreichte ihn und legte den Arm um seine gebeugten Schultern. »Filby, mein guter Freund — komm mit.«

Aber er ignorierte mich. Er deutete mit einem gekrümmten Finger auf das Fenster, wobei Tränen durch die Staubschicht auf seinem Gesicht strömten. »Schau.«

Ich beugte mich näher zum Fenster und blendete mit den Händen den Schein der elektrischen Lampen aus. Die Aldis-Lampen der Schwätzmaschine waren erloschen, wie auch viele Straßenlampen. Ich sah viele Leute in Panik umherrennen — ein umgestürztes Fahrrad — einen Soldaten mit angelegter Gasmaske, der Schüsse in die Luft feuerte… und dort, etwas weiter entfernt, stand eine Säule gleißenden Lichts; es erleuchtete einen Ausschnitt der Straßen, Häuser, eine Ecke des Hyde Park; Leute standen in seinem Schein, blinzelten wie Eulen und hielten sich die Hände vor das Gesicht. Über ihnen setzte sich das Licht in der Luft fort, eine vertikaler Zylinder herumwirbelnden Staubs.

Diese strahlende Säule war Tageslicht. Die Kuppel hatte einen Riß bekommen.

Der deutsche Angriff auf London

Die Haustür hing in den Angeln, offensichtlich durch die Erschütterung aufgestoßen. Von den Soldaten, die uns bewacht hatten, war keine Spur zu sehen — nicht einmal der treue Puttick. Draußen auf der Terrace hörten wir klappernde Schritte, Schreie und zornige Rufe, gellendes Pfeifen, und ein Geruch nach Staub, Rauch und Kordit lag in der Luft. Dieses Fragment von Juni-Tageslicht hing hell und klar über allem; die verwirrte und bestürzte Bevölkerung des konservierten London blinzelte wie aufgeschreckte Eulen.

Moses klopfte mir auf die Schulter. »Dieses Chaos wird nicht lange anhalten; jetzt ist unsere Chance.«

»Sehr richtig. Ich hole Nebogipfel und Filby; du suchst im Haus ein paar Vorräte zusammen…«

»Vorräte? Welche Vorräte?«

Ich verspürte Ungeduld und Gereiztheit: welcher Narr würde nur mit einem Morgenrock und Hausschlappen ausgerüstet eine Zeitreise antreten? »Oh — Kerzen. Und Streichhölzer! So viele, wie du finden kannst. Etwas, das sich als Waffe verwenden läßt — wenn du nichts Besseres findest, tut es auch ein Küchenmesser.« Was noch — was noch? »Kampfer, wenn wir welchen haben. Unterwäsche! — Stopf dir die Taschen mit dem Zeug voll…«

Er nickte. »Ich verstehe. Ich werde ein Bündel schnüren.« Er wandte sich von der Tür ab und lief in die Küche.

Ich eilte zurück ins Raucherzimmer. Nebogipfel hatte die Schuljungen-Kappe aufgesetzt; er hatte seine Notizen zusammengesucht und verstaute sie in einer Pappschachtel. Filby — der arme alte Teufelskerl! — kniete unter dem Fenster; er hatte die Knie an seine Hühnerbrust gezogen und hielt die Hände vor das Gesicht, wie ein Boxer, der eine Deckung aufgebaut hatte.

Ich kniete mich vor ihm hin. »Filby. Filby, alter Freund…« Ich streckte die Hand aus, aber er zuckte vor mir zurück. »Du mußt mit uns kommen. Es ist hier nicht sicher.«

»Sicher? Und bei dir ist es sicherer? Eh? Du… Verschwörer. Du Quatschkopf.« Seine vom Staub tränenden Augen waren klar, wie Fenster, und er schleuderte mir diese Worte entgegen, als wären sie die schlimmsten nur vorstellbaren Beleidigungen. »Ich will dich nur daran erinnern, wie du uns mal zu Weihnachten mit deinem verdammten Geistertrick zu Tode erschreckt hast. Nun, ich werde nicht noch mal darauf hereinfallen!«

Ich mußte mich dazu zwingen, ihn nicht zu schütteln. »Oh, rede keinen Unsinn, Mann! Die Zeitreise ist kein Trick — und dieser verdammte Krieg sicher auch nicht!«

Jemand berührte meine Schulter. Es war Nebogipfel; seine bleichen Finger schienen in den durchs Fenster fallenden Fragmenten des Tageslichts zu glühen. »Wir können ihm nicht helfen«, sagte er sanft.

Filby legte den Kopf zwischen seine zitternden, leberfleckigen Hände, und ich war überzeugt, daß er mich jetzt nicht mehr hören konnte.

»Aber wir können ihn doch nicht einfach so zurücklassen!«

»Was willst du denn machen — ihn vielleicht nach 1891 zurückschicken? Das 1891, das du kanntest, existiert aber nicht mehr — höchstens in irgendeiner unerreichbaren Dimension.«

Jetzt kam Moses mit einem kleinen, prallvollen Rucksack in der Hand ins Raucherzimmer gestürmt; er hatte die Epauletten angelegt und die Gasmaske an der Hüfte befestigt. »Ich bin fertig«, japste er. Nebogipfel und ich reagierten nicht sofort, und Moses schaute uns der Reihe nach an. »Was ist denn? Worauf wartet ihr noch?«

Ich streckte die Hand aus und drückte Filbys Schulter. Immerhin sträubte er sich nicht, und ich interpretierte das als letzten Rest freundschaftlicher Verbundenheit zwischen uns.

Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Wir schauten auf die Straße hinaus. Ich erinnnerte mich, daß dies einmal ein vergleichsweise ruhiges Viertel von London gewesen war; aber jetzt strömten die Menschen durch Queen's Garden Terrace, rannten, stolperten und rempelten sich gegenseitig an. Männer und Frauen hatten ihre Wohnungen und Arbeitsplätze einfach verlassen. Die Köpfe der meisten waren unter Gasmasken verborgen, aber wo ich die Gesichter sehen konnte, las ich nur Schmerz, Elend und Furcht.

Überall schienen Kinder zu sein, überwiegend in dunklen Schuluniformen und mit ihren kleinen Gasmasken; die Schulen schienen offensichtlich geschlossen zu sein. Die Kinder streiften auf der Straße umher und riefen nach ihren Eltern; ich stellte mir die Qualen einer Mutter vor, die in dem riesigen, wimmelnden Ameisenhaufen, zu dem London geworden war, nach ihrem Kind suchte, und ich brach diese Überlegungen ab.

Manche Leute hatten ihre Werktagsutensilien bei sich — Aktentaschen und Handtaschen, vertraut und nutzlos — und andere hatten bereits ihren Hausrat zusammengepackt und in ausgebeulten Koffern verstaut oder in Vorhänge und Bettlaken eingewickelt. Wir sahen einen dünnen, verbissen wirkenden Mann, der stolpernd eine große Kiste auf einem Fahrrad balancierte, die ohne Zweifel mit Wertgegenständen angefüllt war. Die Last kippte ihm ständig gegen seine magere Hüfte, und er mühte sich, das Gleichgewicht zu halten.

»Vorwärts! Vorwärts!« schrie er die Leute vor sich an. »Macht Platz! Macht Platz!«

Die Staatsgewalt schien verschwunden zu sein. Wenn irgendwo Polizisten oder Soldaten gewesen waren, mußten sie überwältigt worden sein — oder hatten sich ihrer Uniformen entledigt und sich der Menge angeschlossen. Ich sah einen Mann in der Uniform der Heilsarmee; er stand auf einer Stufe und schaute sich mit leuchtenden Augen um — ich vermutete, daß er blind war — und brüllte: »Ewigkeit! Ewigkeit!«

Moses zeigte mit dem Finger. »Sieh — die Kuppel ist im Osten geborsten — über Stepney. Soviel zur Unverwundbarkeit dieser wunderbaren Kuppel!«

Ich sah, daß er recht hatte. Es schien, als ob eine große Bombe dicht am östlichen Horizont ein riesiges Loch in die Betonschale gebrochen hätte. Oberhalb dieser klaffenden Wunde war die Kuppel wie eine Eierschale gesprungen, und ein breites gezacktes Band blauen Himmels war sichtbar, das fast bis zum Scheitelpunkt der Kuppel über mir verlief. Ich sah, daß der Schaden noch nicht ausgestanden war, denn Betonbrocken — einige so groß wie ein Haus — regneten vom Himmel auf diesen Stadtteil herab, und ich wußte, daß die Schäden und die Verluste an Menschenleben gigantisch sein mußten.

In der Ferne — ich glaube, im Norden — hörte ich mehrfach ein dumpfes Knallen, wie die Schritte eines Giganten. Die Luft war vom Wimmern der Sirenen durchdrungen — ›ulla, ulla, ulla‹ — und vom lauten Knacken der angeschlagenen Kuppel über uns.

Ich stellte mir vor, oben von der Kuppel auf ein London hinabzuschauen, das in wenigen Augenblicken von einer verängstigten, aber funktionierenden Stadt in eine Schüssel aus Chaos und Schrecken verwandelt worden war. Jede Straße, die vom Riß in der Kuppel weg nach Westen, Süden oder Norden führte, hatte sich in einen Strom aus schwarzen Punkten verwandelt, wobei jeder dieser Punkte ein fliehendes menschliches Wesen darstellte, einen Fleck des körperlichen Leidens und Elends: jeder einzelne ein verlorenes Kind, ein getrennter Ehepartner oder Elternteil.