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Moses mußte schreien, um sich über dem Lärm auf der Straße verständlich zu machen. »Diese verdammte Kuppel wird in einer Minute auf uns alle runterkommen!«

»Ich weiß. Wir müssen zum Imperial. Kommt — setzt eure Schultern ein! Nebogipfel, hilf uns, wenn's geht.«

Wir traten in die Mitte der überfüllten Straße. Wir mußten uns in östlicher Richtung halten, gegen den Strom der Menge, die nach Westen floh. Der offensichtlich vom Tageslicht geblendete Nebogipfel wurde fast von einem mondgesichtigen Mann im Business-Anzug und Epauletten umgerannt, der dem Morlock dann auch noch mit der Faust drohte. Daraufhin nahmen Moses und ich den Morlock zwischen uns, wobei jeder einen knochigen Arm umklammert hielt. Ich kollidierte mit einem Radfahrer und stieß ihn fast um; er schrie mich mit wirren Worten an und wollte mir mit knochiger Faust einen Schwinger verpassen, den ich aber unterlief; dann stürzte er sich wieder mit über der Schulter hängenden Krawatte in das Menschengewimmel hinter mir. Dann näherte sich eine dicke Frau, die rückwärts die Straße entlangstolperte und einen zusammengerollten Teppich hinter sich herzerrte; ihr Rock war über den Knien zerrissen, und die Waden waren staubbedeckt. Alle paar Yards latschte ein anderer Flüchtling auf ihren Teppich, oder er wurde von einem Radfahrer überrollt, wobei die Frau jedesmal stolperte; sie hatte ihre Maske auf, und ich sah kullernde Tränen hinter den Gläsern, während sie sich mit der unvernünftig großen Masse abmühte, die ihr anscheinend so wichtig war.

Wo ich ein unverhülltes menschliches Gesicht sehen konnte, schien es nicht so schlimm zu sein, denn ich brachte ein gewisses Mitgefühl für diesen Angestellten mit den roten Augen oder jener erschöpften Verkäuferin auf; aber mit ihren Gasmasken und in diesem unregelmäßigen Zwielicht wirkte die Menge anonym und insektenhaft; es war, als ob ich erneut von der Erde zu einem weit entfernten Alptraum-Planeten transportiert worden wäre.

Plötzlich ertönte ein neues Geräusch — ein dünnes monotones Schrillen, das die Luft durchschnitt. Ich hatte den Eindruck, daß es von dieser Bresche im Osten kam. Die Menge um uns herum schien einen Moment in ihrer Hektik innezuhalten, als ob sie lauschen wollte. Moses und ich schauten uns fragend an, was diese neue, bedrohliche Entwicklung wohl zu bedeuten hatte.

Dann brach das Pfeifen ab.

In der Stille, die darauf folgte, ertönte auf einmal ein Ruf: »Granaten! Sie schießen Granaten herein!«

Jetzt erkannte ich, was diese entfernten Schritte eines Riesen zu bedeuten hatten: es waren die Einschläge von Artilleriesalven.

Die Schweigeminute war zu Ende. Die Panik erupierte erneut um uns herum, stärker als zuvor. Ich langte über Nebogipfel hinweg, packte Moses' an der Schulter und riß ihn und den Morlock zu Boden, und eine Reihe von Leuten stolperte über uns und bedeckte uns mit warmem, zappelnden Fleisch. In diesem letzten Moment, als irgendwelche Extremitäten in mein Gesicht schlugen, hörte ich die dünne Stimme dieses Manns von der Heilsarmee, der noch immer schrill seinen Ruf herausschrie: »E-wigkeit! E-wig-keit!«

Und dann ein Blitz, der sogar noch unter diesem Fleischhaufen blendete, und die Erde geriet in wogende Bewegung. Ich wurde hochgeschleudert — ich stieß mit dem Kopf gegen den eines anderen Menschen — und dann fiel ich wieder zu Boden, für den Moment bewußtlos.

Die Beschießung

Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich, daß Moses mich unter den Achseln gepackt hatte und unter gefallenen Körpern hervorzog. Meine Füße verfingen sich irgendwo — vermutlich in einem Fahrradrahmen — und ich schrie auf; Moses gab mir einen Moment, damit ich die Füße entwirren konnte, und befreite mich dann vollständig.

»Bist du in Ordnung?« Er berührte meine Stirn mit den Fingerspitzen, und als er sie wieder wegnahm, waren sie blutig. Ich sah, daß er den Rucksack verloren hatte.

Mir war schwindlig, und ein starker Schmerz schien um meinen Kopf zu kreisen und nur darauf zu warten, daß er sich dort einrüsten konnte. Ich wußte, daß es mir wirklich schlechtgehen würde, wenn ich meine momentane Betäubung erst überwunden hatte. Aber ich schüttelte den Kopf, denn dafür war jetzt keine Zeit. »Wo steckt Nebogipfel?«

»Hier.«

Der Morlock stand unverletzt auf der Straße; er hatte indessen seine Kappe verloren, und an seiner Brille hing irgendein abgerissener Fetzen Stoff. Seine Pappschachtel war zerstört, und die Aufzeichnungen waren überall verstreut; Nebogipfel sah gleichmütig zu, wie die Blätter davonwirbelten.

Die Druckwelle und die Erschütterung hatten die Menschen durcheinandergeworfen. Überall um uns herum lagen sie in den merkwürdigsten Stellungen, Körper auf Körper, ausgebreitete Arme, verdrehte Füße, offene Münder, starrende Augen, alte Männer auf jungen Frauen, ein Kind, das auf dem Rücken eines Soldaten lag. Überall war Bewegung und Stöhnen, als die Leute aufzustehen versuchten — es erinnerte mich an einen Haufen übereinanderkrabbelnder Insekten — und hier und da sah ich Blutflecken, die sich dunkel gegen Fleisch und Kleidung abzeichneten.

»Mein Gott«, sagte Moses bewegt. »Wir müssen diesen Menschen helfen. Komm…«

»Nein«, fuhr ich ihn an. »Wir können nicht — es sind zu viele; es gibt nichts, was wir tun könnten. Wir müssen vielmehr froh sein, daß wir überhaupt noch leben… Und jetzt, wo die Geschütze sich eingeschossen haben — Komm! Wir müssen unserem Plan folgen; wir müssen hier weg und in die Zeit. Begreif doch!«

»Das halte ich nicht aus«, schrie Moses. »Ich habe noch nie einen solchen Anblick erlebt.«

Der Morlock stieß wieder zu uns. »Ich fürchte, daß wir noch Schlimmeres sehen werden, bevor dieses Jahrhundert zu Ende ist«, prophezeite er düster.

Also gingen wir weiter. Wir stolperten über einen Straßenbelag, der vor lauter Blut und Exkrementen schlüpfrig geworden war. Wir kamen an einem Jungen vorbei, der hilflos stöhnte, wahrscheinlich ein zerschmettertes Bein; ungeachtet meiner vorherigen Einwände konnten Moses und ich sein klagendes Weinen und die Hilferufe einfach nicht ignorieren. Er lag dicht neben dem zerfetzten Leichnam eines Milchmanns, und wir bückten uns, um ihn von dort wegzuschaffen und gegen eine Wand zu lehnen. Eine Frau tauchte aus der Menge auf, sah die Qualen des Kindes und ging zu ihm hin, begann sein Gesicht mit einem Taschentuch abzuwischen.

»Ist sie seine Mutter?« fragte mich Moses.

»Ich weiß nicht. Ich…«

Diese seltsame, fließende Stimme erklang hinter uns, wie ein Ruf aus einer anderen Welt. »Kommt!«

Wir gingen weiter und erreichten schließlich die Ecke, wo Queen's Gate und die Terrace aufeinanderstoßen; und wir sahen, daß hier das Epizentrum der Explosion gewesen war.

»Wenigstens kein Gas«, stellte ich erleichtert fest.

»Nein«, bestätigte Moses mit belegter Stimme. »Aber — O Gott! — das gibt es doch nicht!«

In der Straße klaffte ein Krater mit einem Durchmesser von vielleicht fünf Fuß. Türen waren eingedrückt, und weit und breit war kein Fenster mehr ganz; die Vorhänge baumelten nutzlos herab. Die Splitter der explodierten Granaten hatten die Gehwege und Hauswände mit kleinen Kratern übersät.

Und die Menschen…

Manchmal versagt die Sprache, wenn es darum geht, den ganzen Schrecken eines Ereignisses zu vermitteln; manchmal bricht der Austausch zwischen den Menschen über vergangene Ereignisse, der ja die Grundlage unserer Gesellschaft ist, zusammen. Dies war ein solcher Moment. Ich konnte niemandem, der es nicht selbst erlebt hatte, den Schrecken dieser Londoner Straße vermitteln.