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Doch wenigstens, so tröstete ich mich, würden die vor mir liegenden Herausforderungen einfach sein! Ich wäre weder dazu gezwungen, mich meinem jüngeren Ich zu stellen — noch müßte ich mich nach der Zerstörung des Zeit-Fahrzeuges mit den moralischen und philosophischen Problemen Multipler Historien befassen. Vielmehr mußte ich nur Nahrung suchen, einen Schutz vor dem Regen errichten und uns gegen die wilden Tiere und Vögel dieser tiefen Vergangenheit verteidigen.

Ich beschloß, daß meine erste Mission die Suche nach Trinkwasser sein mußte; mein Durst war so brennend, daß ich sogar die Bedürfnisse des Morlocks vernachlässigte, denn ich hatte seit der Beschießung von London nichts mehr zu mir genommen.

Ich bettete den Morlock dicht am Baumstamm inmitten der Trümmer des Zeitfahrzeugs. Ich hielt diesen Platz für so sicher wie jeden anderen vor den Raubzügen der Monster dieses Zeitalters. Ich zog mein Jackett aus und legte es unter seinen Rücken, um die Feuchtigkeit des Mulchs abzuhalten — und auch alles Lebendige, das hier drinnen krabbeln, zwicken und nagen mochte! Dann, nach einigem Zögern, nahm ich den Schraubenschlüssel vom Gürtel und legte ihn auf den Morlock, so daß seine Finger um den schweren Griff der Waffe lagen.

Weil ich Bedenken hatte, selbst unbewaffnet zu gehen, stöberte ich in den Trümmern des Fahrzeuges herum, bis ich ein kurzes, stabiles Eisenrohr fand, das ich solange hin und her bog, bis es vom Rahmen abbrach. Ich wog es in der Hand. Es hatte zwar nicht die vertrauenerweckende Masse meines Schlüssels, war aber immer noch besser als gar nichts.

Ich beschloß, dem Rauschen des Wassers zu folgen; es schien aus der der Sonne entgegengesetzten Richtung zu kommen. Ich legte den Knüppel auf die Schulter und marschierte durch den Wald.

Das Urmeer

Es war nicht schwierig, mir einen Weg zu bahnen, denn die Bäume wuchsen nur in vereinzelten Inseln auf einer weiten Ebene; die dicke, gleichmäßige Kuppel aus Blättern und Ästen blendete das Tageslicht vom Boden aus und schien auch hier die Vegetation zu unterdrücken.

Unter der Kuppel ging es sehr lebendig zu. Epiphyten — Orchideen und Schlingpflanzen — klammerten sich an die Baumrinde, und Lianen baumelten von Ästen herab. Es gab eine Vielzahl von Vögeln und Kolonien von Lebewesen, die in den Ästen lebten: Affen oder andere Primaten (wofür ich sie jedenfalls auf den ersten Blick hielt). Da gab es vielleicht acht Zoll lange Kreaturen, die wie Edelmarder aussahen, mit gelenkigen Schultern und langen, buschigen Schwänzen, die durch die Äste flitzten und hüpften und dabei hustenartige Schreie ausstießen. Außerdem war da noch ein anderes, größeres Klettertier — etwa drei Fuß groß — mit Greifklauen und Klammerschwänzen. Dieses floh nicht bei meiner Annäherung; vielmehr klammerte es sich an die Unterseite eines Astes und schaute mich mit kalter Berechnung an.

Ich ging weiter. Die örtliche Fauna kannte zwar keine Menschen, hatte aber offensichtlich aufgrund der Existenz von Nebogipfels Diatryma, und sicher auch wegen anderer Räuber, starke Überlebensinstinkte entwickelt. Daher würden sie meinen Versuchen, sie zu jagen, wohl ablehnend gegenüberstehen.

Als sich meine Augen an das allgemeine Dunkel des Waldes angepaßt hatten, sah ich, daß Tarnen und Täuschen die bestimmenden Prinzipien waren. Hier hing z. B. ein verrottendes Blatt an einem Baum — oder so dachte ich zumindest, bis dann das ›Blatt‹ bei meiner Annäherung Insektenbeine entfaltete und als stäbchenförmige Kreatur weghüpfte. Dort erspähte ich auf einem Felsen etwas, das wie Regentropfen aussah und wie kleine Juwelen in dem durch das Baumdach gefilterten Licht glitzerte. Aber als ich mich darüber beugte, um sie zu inspizieren, sah ich, daß es sich um Käfer mit transparenten Panzern handelte. Dort war ein Guanospritzer auf einem Baumstamm, ein schwarzweißer Fleck — und ich staunte nicht wenig, als er träge Spinnenbeine ausfuhr.

Nach vielleicht einer Meile traten die Bäume auseinander; ich ging durch einen Palmenhain und gelangte in den Schein des Sonnenlichts, wobei körniger Sand unter den Stiefeln rieselte. Ich war an einem Strand angekommen. Hinter einem Streifen aus weißem Sand glitzerte ein so breites Gewässer, daß ich das gegenüberliegende Ufer nicht erkennen konnte. Hinter mir stand die Sonne tief am Himmel; trotzdem spürte ich ihre intensive Strahlung auf Hals und Kopfhaut.

In der Ferne — ein Stück den langen, geraden Strand entlang — erblickte ich eine Familie Diatryma-Vögel. Die beiden Alten putzten sich, wobei sie die Hälse umeinander geschlungen hatten, während drei Junge auf ihren staksigen Beinen umherwateten, planschten und krähten oder im Wasser saßen und ihr öliges Gefieder mit Wasser besprühten. Das ganze Ensemble sah mit seinem schwarzen Federkleid, den plumpen Körpern und Stummelflügeln zwar recht putzig aus, aber trotzdem behielt ich sie sorgfältig im Auge, solange ich mich dort aufhielt, denn schon das kleinste Junge war drei Fuß groß und ziemlich kräftig.

Ich lief zum Wasser; ich befeuchtete die Finger und leckte sie ab. Das Wasser war salzig: Meerwasser.

Ich hatte den Eindruck, daß die Sonne hinter dem Wald versunken wäre, und sie mußte ja im Westen untergehen. Also hatte ich mich vielleicht eine halbe Meile in östlicher Richtung von der ›Landestelle‹ des Zeit-Fahrzeugs entfernt und befand mich somit — hypothetisch — in der Nähe der Kreuzung Knightsbridge und Sloane Street. Und in diesem Zeitalter des Paläozän waren es die Gestade eines Meeres! Ich schaute über diesen Ozean, der ganz London bis zur Hyde Park Corner im Osten zu bedecken schien. Vielleicht, so spekulierte ich, war dieses Meer eine Erweiterung der Nordsee oder des Ärmelkanals, die sich bis nach London erstreckte. Wenn das stimmte, hatten wir ziemliches Glück gehabt; wenn der Meeresspiegel nämlich noch etwas höher gelegen hätte, wären Nebogipfel und ich nicht an der Küste, sondern in den Tiefen des Ozeans gelandet.

Ich zog Stiefel und Strümpfe aus, band sie mit den Schnürsenkeln am Gürtel fest und watete ein Stück ins Meer hinaus. Die Füße wurden kalt von der Flüssigkeit umspült; ich war versucht, das Gesicht ins Wasser zu stecken, aber ich ließ es dann aus Angst vor der Wirkung des Salzes auf meine Wunden doch bleiben. Ich sah einen Abdruck im Sand, der so aussah, als ob er bei Ebbe einen Tümpel bilden würde. Ich grub an dieser Stelle die Hände in den Sand und förderte sofort eine ganze Kollektion von Lebewesen zutage: Bohrmuscheln, Gastropoden und Austernähnliche. Die Artenvielfalt schien zwar begrenzt zu sein, aber dieses fruchtbare Meer beherbergte offensichtlich eine Vielzahl von Lebewesen.

Dort, am Ufer jenes Ozeans, wo das gurgelnde Wasser um die Füße und Finger spülte und die Sonne mir warm auf den Hals schien, überkam mich ein Gefühl des tiefen Friedens. Als Kind hatten mich meine Eltern auf Tagesausflüge nach Lympne und Dungeness mitgenommen, wo ich immer zum Meeresufer gelaufen war — genauso wie ich es heute getan hatte — und mir vorgestellt hatte, daß ich der einzige Mensch auf der Welt wäre. Aber jetzt war das buchstäblich wahr! Es war schon eine seltsame Vorstellung, daß nirgendwo auf der Welt auch nur ein einziges Schiff diesen jungen Ozean befuhr; daß es keine von Menschen errichteten Städte jenseits des Dschungels hinter mir gab — ich und der arme, verwundete Morlock stellten die einzigen Funken von Intelligenz auf diesem Planeten dar. Aber das war nicht einmal eine beunruhigende Aussicht — nicht im geringsten — nach der fürchterlichen Dunkelheit und dem Chaos von 1938, dem ich gerade erst entronnen war.