Nebogipfel verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit der Leitung von sogenannten ›Studiengruppen‹. Diese waren für alle Kolonisten zugänglich, obwohl in der Praxis dann jedesmal immer nur drei oder vier Zuhörer erschienen, je nach Interesse und sonstigen Verpflichtungen. Nebogipfel referierte über praktische Aspekte des Lebens im Paläozän, z.B. über die Herstellung von Kerzen und Stoffen aus den natürlichen Ressourcen; er entwickelte sogar eine Art Seife, eine zähe, körnige Paste aus Soda und Tierfett. Aber er ließ sich auch über andere Themen aus: Medizin, Physik, Mathematik, Chemie, Biologie, die Prinzipien der Zeitreise…
Ich nahm an einer Reihe dieser Sitzungen teil. Trotz der unheimlich klingenden Stimme und der eigentümlichen Art war die Präsentation des Morlocks immer bewundernswert verständlich, und er hatte eine Vorliebe, das Verständnis seines Auditoriums mit Fragen zu testen. Während ich ihm so zuhörte, wurde mir bewußt, daß sich die Dozenten der britischen Durchschnittsuniversität eine Scheibe oder zwei von ihm hätten abschneiden können!
Was die Vorlesungsinhalte betraf, so orientierte er sich strikt an der Sprache seiner Zuhörer — am Vokabular, wenn nicht gar am Jargon von 1944 — und er gab ihnen einen Überblick über die in den darauffolgenden Jahrzehnten erfolgten Entwicklungen auf jedem Gebiet. Wo es möglich war, betrieb er Anschauungsunterricht mit Metall- und Holzstücken oder zeichnete mit Stöcken Diagramme in den Sand; er ließ seine ›Studenten‹ jedes Stück Papier, das wir hatten retten können, mit seinem Wissen beschriften.
Es hatte den Anschein, als ob er ihnen auf diesen fragilen Schnipseln ein ganzes Jahrhundert an Wissen präsentierte.
In einer dunklen und mondlosen Nacht diskutierte ich das alles mit ihm. Er hatte seine neue Maske abgelegt, und die grauroten Augen schienen zu leuchten; mit einem groben Mörser und einem Stößel zerstampfte er Palmblätter in einer Flüssigkeit. »Papier«, erklärte er. »Oder zumindest ein Experiment in dieser Richtung… Wir brauchen mehr Papier! Euer verbales Gedächtnis ist nicht zuverlässig genug — sie werden alles wieder vergessen, wenn ich in ein paar Jahren gegangen bin…«
Ich interpretierte das — fälschlicherweise, wie sich dann herausstellte — als Bezugnahme auf eine Befürchtung oder sogar eine Todeserwartung. Ich setzte mich neben ihn und nahm ihm den Mörser und den Stößel aus der Hand. »Aber hat das alles überhaupt einen Sinn? Nebogipfel, wir können gerade mal das reine Überleben sichern. Und du erzählst ihnen etwas von Quantenmechanik und der Einheitlichen Feldtheorie der Physik! Wozu benötigen sie diese Kenntnisse denn?«
»Sie benötigen sie nicht«, stellte er fest. »Aber ihre Kinder werden sie brauchen — wenn sie überleben wollen. Schau: gemäß gesicherter Theorien benötigt jede große Säugetierspezies eine Population von mehreren hundert Individuen, um durch eine ausreichende genetische Vielfalt das langfristige Überleben zu gewährleisten.«
»Genetische Vielfalt — Hilary hat schon davon gesprochen.«
»Der hier verfügbare Bestand an Menschen ist ganz klar zu gering, um das Überleben der Kolonie zu ermöglichen — selbst wenn das gesamte genetische Material in einem Pool gesammelt würde.«
»Also?« meinte ich.
»Also besteht die einzige Aussicht, über zwei oder drei Generationen hinaus zu überleben, darin, daß diese Menschen sich schnell ein profundes technologisches Wissen aneignen. Auf diese Art können sie zu Herren ihres eigenen genetischen Schicksals werden: Sie müssen weder die Konsequenzen der Inzucht tolerieren noch die durch die Radioaktivität des Carolinums hervorgerufenen Folgeschäden. Wie du siehst, brauchen sie die Quantenmechanik und den Rest.«
Ich spielte mit dem Stößel. »Ja. Aber hier wirft sich eine Frage auf — soll denn die Menschheit überhaupt überleben, hier im Paläozän? Ich meine, es ist uns eigentlich nicht bestimmt, hier zu sein — nicht in den nächsten fünfzig Millionen Jahren.«
Er musterte mich. »Aber wie sieht denn die Alternative aus? Willst du etwa, daß diese Leute aussterben?«
Ich erinnerte mich an meinen Entschluß, die Existenz der Zeitmaschine zu beenden, bevor sie überhaupt in Dienst gestellt wurde — dieser endlosen Geschichtsklitterung ein Ende zu setzen. Nun — dank meines stümperhaften Vorgehens — hatte ich indirekt die Gründung dieser menschlichen Kolonie in der tiefen Vergangenheit verursacht, eine Gründung, die sicherlich die bisher gravierendste Verwerfung der Geschichte bewirken würde! Plötzlich glaubte ich zu fallen — es erinnerte mich irgendwie an den schwindelerregenden Sturz, den man bei einer Reise durch die Zeit erlebt — und ich spürte, daß diese Aufspaltung der Geschichte schon längst meiner Kontrolle entglitten war.
Und dann dachte ich an den Ausdruck in Stubbins' Gesicht, als er sein erstes Kind betrachtet hatte.
Ich bin ein Mensch und kein Gott! Ich mußte mich von meinen menschlichen Instinkten leiten lassen, denn ich war sicher nicht imstande, die Evolution verschiedener Historien zu managen. Jeder von uns, dachte ich, konnte nur wenig am Lauf der Dinge ändern — ja eigentlich konnte alles, was wir unternahmen, sich so unkontrolliert auswirken, daß es mehr schadete als nutzte — und dennoch sollten wir nicht zulassen, daß das große Panorama über uns, die unzähligen Multiplen Historien, uns einfach überwältigten. Die Perspektive der Multiplizität ließ jeden von uns und unsere Handlungen winzig erscheinen, überlegte ich — aber nicht bedeutungslos; und jeder von uns muß sein Leben mit Stoizismus und Tapferkeit weiterleben, als ob es das alles — den Letztendlichen Untergang der Menschheit, die unzähligen Multiplizitäten — überhaupt nicht gäbe.
Wie auch immer die Auswirkungen auf die Zukunft in fünfzig Millionen Jahren aussehen würden, diese Kolonie des Paläozäns hatte in meinen Augen ihre Daseinsberechtigung. So konnte meine Antwort auf Nebogipfels Frage auch gar nicht anders ausfallen.
»Nein. Nein, natürlich müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um das Überleben der Kolonisten und ihrer Nachkommen zu sichern.«
»Deshalb…«
»Ja?«
»Deshalb muß ich irgendwie Papier herstellen.«
Ich setzte die Arbeit mit dem Stößel und dem Mörser fort.
Das Fest und was danach geschah
Eines Tages verkündete Hilary, daß sich der Bombenangriff in einer Woche zum erstenmal jährte und daß anläßlich der Gründung unseres kleinen Dorfes eine Feier stattfinden würde.
Die Kolonisten griffen dieses Vorhaben begeistert auf, und bald waren die Vorbereitungen schon weit gediehen. Die große Halle wurde mit Lianen und großen Blumengirlanden geschmückt, die aus dem Wald geholt worden waren, und es wurden Vorbereitungen getroffen, aus der wertvollen Diatryma-Schar der Kolonie ein Tier zu schlachten und zu braten.
Ich hingegen suchte Trichter und Röhren zusammen und begann in der Abgeschiedenheit meiner alten Hütte mit der Durchführung intensiver geheimer Experimente. Das weckte natürlich die Neugier der Kolonisten, und ich mußte sogar in der alten Behausung schlafen, um das Geheimnis meines improvisierten Apparillos zu bewahren. Ich hatte nämlich befunden, daß es endlich an der Zeit war, meine wissenschaftliche Kompetenz in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen!
Schließlich dämmerte der Festtag herauf. Wir versammelten uns im strahlenden Morgenlicht vor der Gemeinschaftshalle, und große Aufregung und Spannung lag in der Luft. Wieder einmal waren die Überreste der Uniformen gereinigt und angelegt worden, und der militärische Nachwuchs war in die neuen Kleider gehüllt, die Nebogipfel aus einer Art Baumwolle gefertigt und mit Pflanzenfarben rot und purpur gefärbt hatte. Ich streifte durch die Menschenansammlung und hielt Ausschau nach meinen engeren Freunden… — als plötzlich Zweige knackten und ein tiefes, krächzendes Bellen ertönte.