... Erheben Sie sich vom Boden strecken Sie die Flügel aus atmen Sie tief im Wind lassen Sie sich treiben
Sie brauchen kein Ziel lassen Sie zurück, was Sie belastet eine Wolke nimmt Sie auf eine Schale aus Wärme eine Handvoll Sympathie ein Hauch Vergessenheit es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft...
»Kannst du den Sender anpeilen?« fragte Sonja.
»Es nützt uns nichts – es dürfte viele Sendeantennen geben; wenn ich mich nicht irre, in jedem Block eine. Das sagt nichts darüber aus, wo die Zentrale ist.«
»Wie sollen wir weiterkommen?«
»Wenn es keine Menschen gibt, haben wir nicht viel zu tun. Wir brauchen keine Nachrichten auszugeben und niemanden aufzufordern, sich unserer Ordnung anzupassen.«
»Wozu bin ich dann hier?« fragte Sonja.
»Wozu sind wir hierhergekommen?«
»Es ist nicht gesagt, daß es keine Menschen gibt. Wir waren noch nicht in den Gebäuden.«
»Warum sehen wir nicht nach?«
»Der Oberst ist vorsichtig, und ich glaube fast, er hat recht. Ist niemand hier, so haben wir keine Eile. Gibt es aber doch Menschen hier, so müssen wir auf alles gefaßt sein.«
»Es ist schwer, Geduld zu haben, wenn man das Unbekannte schon berührt.«
»Wir werden noch lange genug zu tun haben – länger als uns lieb ist. Ganz gleich, ob sie leben oder nicht: Wir werden ihre Technik erforschen, ihre Erfindungen kennenlernen, das System ihrer Steuerung, ihre Art zu leben – abgeschlossen von der Welt, in einem künstlichen Gehäuse. Woher beziehen sie ihre Energie, ihre Rohstoffe, ihre Nahrungsmittel? Wie haben sie sich entwickelt, körperlich, geistig?«
»Sollen wir hier Wissenschaft betreiben?«
»Wenn sich herausstellt, daß wir keine anderen Aufgaben haben, werden wir Wissenschaft betreiben.«
»Dann werden andere kommen, die das besorgen.«
»Wir sind darauf trainiert, die Situation schnell zu erfassen. Wir sind schneller als die anderen. Wäre das eine normale Stadt, so hätten wir innerhalb von Stunden wissen müssen, wie sie verwaltet wird, wo die mechanischen Schlüsselstellen liegen, wie wir die Bevölkerung auf unsere Seite ziehen können. Vielleicht brauchen wir nun nichts mehr zu unternehmen, trotzdem gibt es genug Probleme zu lösen.«
»Nur Sonja hat dann nichts zu tun.«
»Soll ich nach Hause gehen?«
»Nein, Sonja, du gehörst zu uns!«
Sie kehrten am Abend ins Lager zurück. Sie hatten nichts gesehen als leere Straßen, Wände ohne Fenster, einen Streifen künstlichen Himmels.
Die Mannschaften standen untätig umher, einige lungerten in der Umgebung herum. Viele hatten die Helme geöffnet. Der Oberst überwand seine Bedenken und gestattete offiziell, daß die Schutzanzüge abgelegt werden durften. Die Analysatoren hatten keine Spur von Keimen festgestellt, und niemand glaubte noch an geheimnisvolle Viren.
Als um 21 Uhr der Befehl zur Nachtruhe kam, waren die Mannschaften nicht müde, denn sie hatten wenig getan, und sie waren verdrossen, weil ihnen das wenige, das man ihnen befohlen hatte, als Schikane erschienen war.
Josef hatte die Empfangsgeräte wieder ins Zelt genommen und hörte einige Wellenbereiche ab.
»Wie soll es weitergehen?«
»Wir brauchen volle Bewegungsfreiheit, sonst kommen wir nicht weiter.«
»Morgen sehen wir uns die Häuser an, ob es dem Obersten recht ist oder nicht.«
Sie aßen, machten sich Notizen, überprüften einige Geräte. Dann gab es nichts mehr zu tun. Draußen war es hell, das Licht drang durch die Sichtschlitze ein und warf mehrfache Schatten.
»Haben wir nichts zum Verdunkeln – bei dieser verfluchten Festbeleuchtung kann ja niemand schlafen.«
Sie hefteten Silberfolien von den Frischhaltepackungen über die Luken. Es wurde finster, aber es kam keine Abendstimmung auf. Verdrossen legten sie sich auf ihre Gummimatratzen, zogen die Decken über.
»Mach Musik, Josef!«
Der Singsang der langgezogenen, auf- und abschwellenden Laute erfüllte die Enge, und allmählich versank die Wirklichkeit und gab einer wohligen Mattigkeit Raum.
Dann drang wieder eine Stimme durch die Musik, diesmal eine weiche Frauenstimme, dunkel, vibrierend:
... das ist die Stunde der Zärtlichkeit die Stunde der uralten Spiele seid gut zueinander macht eure Wärme zum Geschenk laßt eure Hände wandern geht auf die Suche mit den Lippen glättet das feuchte Haar kühlt die heiße Haut horcht in das Dunkel hinein hüllt euch in den Mantel des Vergessens die Süße liegt im Verborgenen sucht sie, sucht sie...
Dan drehte den Kopf und sah zu Sonja hinüber. Sie blickte ihn mit großen Augen an. Er streckte den Arm aus, und sie kam ihm entgegen. Seine Lippen berührten ihre Stirn, ihre Augen, die Wangen, den Mund. Unter seiner Hand fühlte er ihre Schulter. Er streichelte sie, fuhr die glatte Haut entlang. Es war still, bis auf verhaltene Atemzüge, bis auf die leise Musik, die Stimme aus dem Lautsprecher.
Dan zögerte noch. Einen Augenblick lang beobachtete er alles gleichsam von außen, wie alle Grundsätze zerfielen, alle Bedenken zerflossen. Er wurde seltsam leicht, er schwebte. Die Welt war dunkel, er sah nichts, alle seine Sinne konzentrierten sich auf das Gefühl. Ein Strudel erfaßte ihn, und er ließ sich treiben.
Sonja küßte ihn, und er küßte sie. Sie verhielten sich lautlos und bewegten sich nicht, lange Zeit. Aus dem Hintergrund, durch einen Vorhang von Schatten, flüsterte die Stimme auf sie ein.
Als sie am nächsten Morgen erwachten, lagen sie nebeneinander, und doch waren sie meilenweit voneinander entfernt. Sie verstanden nicht, was geschehen war, vielleicht war es ein Traum gewesen, und vielleicht hatten alle dasselbe geträumt.
Kurz darauf meldete sich der Oberst über Funk. Es gäbe etwas zu sehen.
Sie stiegen den Hang hinauf, erreichten den Weg, den sie zwei Tage zuvor gekommen waren, überwanden den Steilhang zur Rampe. Von hier aus konnten sie die oberste Einebnung überblicken, den untersten Streifen der Kunststoffwand... Von der Öffnung, die sie gesprengt hatten, war nichts mehr zu erkennen.
Die Wand war glatt, nebelhaft durchsichtig wie zuvor, draußen dehnte sich die endlose Ebene.
»Wir sind eingeschlossen.«
»Seit wann? Haben die Posten nichts bemerkt?«
»Nein. Es muß heute nacht geschehen sein. Gestern noch waren einige Männer hier oben; sie versichern, daß die Öffnung noch bestand.«
»Was werden Sie tun?«
»Behalten Sie es vorerst für sich. Es könnte Unruhe verursachen. Ich nehme die Sache nicht tragisch. Wir können jederzeit wieder sprengen. Wenn es sein muß, sprenge ich die ganze Kuppel in die Luft.«
Er spürte noch den Druck der Elektroden auf der Haut seiner kahlrasierten Schläfen, die Striemen des Pulsschalldetektors am Handgelenk.
Zuerst war er zufrieden gewesen, dann gereizt, dann beunruhigt... es schien sich nicht um eine einfache Verzögerung zu handeln, um eine Verschiebung im Zeitplan – jetzt war er sicher, daß sie irgend etwas vermuteten, einen Verdacht hatten. Die Fragen nach Stimmung, Disziplin, Allgemeinbefinden legten es nahe. Suchten sie nach einem Schuldigen? Wollten sie ihn bestrafen? Dachten sie an eine Meuterei? Hielten sie ihn für den Rädelsführer? Sollte er etwas zugeben, eingestehen, nur um endlich herauszukommen? Aber was?
Er verschwieg nichts, wußte nicht, was er hätte verschweigen sollen. In den ersten Tagen hatte er versucht, Privates für sich zu behalten. Jetzt besaß er längst nichts Privates mehr. Sie merkten es sofort, wenn er etwas verschwieg, und der Arzt hatte ihm einige Male Injektionen gegeben.
Er schüttelte sich. Nicht, daß einem übel wurde, das Völlegefühl im Magen war zu ertragen. Das Unerträgliche war dieser Zwang zu reden. Er hörte sich selbst zu, erstaunt, verwirrt, beschämt, was sich da in ihm formulierte, Dinge, die er von sich selbst nicht wußte, sich nicht eingestand. Es war, als hätte etwas in ihm eine teuflische Freude daran, die intimsten Gefühle zu offenbaren, sie auszubreiten, darin zu wühlen. Dabei war er nicht einmal sicher, ob alles stimmte, was er da von sich gab. Könnte es nicht sein, daß dieses willenlose, willfährige Ich in ihm Geschehnisse erfand, nur um die Zuhörer zufriedenzustellen?