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Sie waren austauschbare Größen.

*

Wir setzten mehrmals dazu an, in die Wohnräume der Stadtbewohner einzudringen. Meist leuchtete die rote Schrift auf, und wir versuchten es bei der nächsten Türe. War man ausdauernd genug, hatte man bestimmt früher oder später Glück. Stets ging nur einer hinein, die andern warteten draußen – das hatten wir uns zur Regel gemacht.

Wir sammelten eine Fülle von Informationen, und doch enthüllten sie, geordnet und in Zusammenhang gebracht, nur einen Teil des Bildes, gewissermaßen den vordergründigen. Aber dieser Teil ist sicherlich wesentlich, er bestimmt den Sollwert des Regelkreises, der sich hier eingespielt hatte.

Natürlich besprachen wir die Ergebnisse eingehend. Wir legten möglichst präzise Gedächtnisprotokolle an, diskutierten ungewöhnliche Geschehnisse, versuchten Widersprüche aufzuklären. Viele Beobachtungen wiederholten sich, andere waren einmalig und nicht reproduzierbar.

Ich berichte – als Beispiel für viele – von einem eigenen Versuch, der gute Resultate erbrachte.

Ich fand eine Tür, die sich öffnen ließ. Nur ein Teil der Projektionswände war erleuchtet, etwa ein Drittel des Umfanges, der andere Teil halbverdunkelt. Oben, im Zentrum der Kuppel, schwebte ein Beleuchtungskörper, eine Lichtspindel, die einen weichen, gelblichen, fein gebündelten Strahl abgab. Später merkte ich, daß es nur eine Projektion war.

Das Bild auf der Sichtfläche zeigte ein kompliziertes Diagramm, farbige Linien, Pfeile, Kreise mit eingeschriebenen Ziffern, die mitunter wechselten. In einer Ecke eine Zeitanzeige, die offenbar im Zeitraffer lief.

Als ich eintrat, sah der Mann im Liegesitz kurz auf. Zur Bildfläche gewandt sagte er »Pause«. Die Zeitanzeige blieb stehen. Das Diagramm verblaßte, man sah in einen dämmrig erleuchteten Raum, es war wie ein Spiegelbild, derselbe Liegestuhl, ein Mann; zuerst meinte ich, in das Nachbarappartement zu sehen, aber es war eine Projektion, wer weiß, über welche Entfernung.

Der eine Mann sagte zum andern: »Fünf Minuten, wenn es dir recht ist?«

»In Ordnung.«

Das Bild verschwand, es wurde heller, ohne daß ich hätte sagen können, wodurch.

»Bist du einer der Fremden?«

»Ja.«

»Du hast Glück. Ich interessiere mich für Geschichte.« Er drückte eine Taste, und neben mich schob sich eine Liege.

»Bitte, setz dich. Du holst dir noch einen Muskeltremor. Ein Stärkungsbad?«

»Nein, danke.«

»Ich brauche einige historische Angaben. Die Schlacht bei Waterloo – ein Begriff?«

»Ja.«

»69 052 Mann hatte Napoleon, 272 Kanonen, Blücher 74 860, doch mir fehlen die Angaben für Wellington – 90 000? oder 64 000? Und wieviel Kanonen? 272 hatte Napoleon. Und Wellington? Kannst du die Daten besorgen?«

»Ich kann es versuchen.«

»Man hätte Wellington und Blücher den Weg abschneiden sollen. Die Geschütze auf der Hügelkette postieren. Dann wären die Verluste geringer gewesen. Ich habe es durchgerechnet. Napoleon hätte die Schlacht bei Waterloo gewinnen können. Was meinst du?«

»Ich weiß nicht recht.«

»Glaubst du mir nicht? Wollen wir wetten?«

»Nein. Ich hätte eigentlich einige Fragen...«

»Später. Zuerst ich, dann du. Schließlich bist du reingekommen – ohne zu fragen.«

»Die Tür war nicht verschlossen.«

»Wem fällt es schon ein, in fremde Appartements zu kommen, noch dazu zu Fuß.«

»Verlaßt ihr nie den Rollstuhl?«

»Ich frage zuerst: Wieviel Mann hatte Napoleon?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber ihr habt doch sicher Aufzeichnungen darüber. Könntest du sie nicht abrufen?«

»Ich will es gern tun, aber es geht nicht so schnell.«

»Wirst du es tun?«

»Ja. Wenn du mir meine Fragen beantwortest.«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Dann bitte schnell. Ganz kurz.«

»Wieviel Einwohner hat die Stadt?«

»Aber das ist doch albern. Frag doch selbst ab.«

»Bei wem?«

»Bei der Zentrale selbstverständlich.«

»Ich habe kein Ein- und Ausgabegerät.«

»Es stehen genügend Appartements frei.«

»Wo?«

»Wie soll ich das wissen, ich hab’ meins.«

»Kannst du nicht nachfragen?«

»Jetzt nicht – keine Zeit!«

»Dann besorge ich dir die Daten nicht.«

»Na schön.«

Er drückte einige Tasten auf dem Manual. Auf der Projektionswand erschien ein Plan, offenbar ein Plan der Stadt. Einige Bereiche oszillierten rot.

»Zufrieden?«

»Wie ist die Orientierung?«

»Jetzt wird mir die Sache aber wirklich zu blöd. Ich muß zurück.«

Ein Griff an die Schalttafel, und die Projektionswände leuchteten auf, Klirren und Tosen erfüllte den Raum, Schreie, französisch, deutsch, englisch, flämisch. Funken stoben, Dampf stieg auf; man roch es, gedämpft, aber durchaus echt – es roch nach Pulver, nach Schweiß, nach Tierleibern. Bärenmützen, Tschakos, Reiter klammerten sich an hochgehende Pferde, Menschen in bunten Uniformen rannten gegen einen Hagel von niederprasselnden Geschossen, ein hölzerner Wagen brannte. Degenspitzen, Bajonette, Fontänen von Schlamm. Die Zeitansage lief wieder, die Ziffern schwebten frei im Raum.

»Siehst du, es geht weiter! Diesmal finde ich die richtige Strategie. Wir müssen von links angreifen, das ist die Lösung.«

Er saß wie ein Feldherr inmitten der Schlacht. Ein Knopfdruck, und das Diagramm erschien. Finger huschten über die Tasten, einige Pfeile änderten ihre Richtung. In einem blendendweißen Feld erschienen Zahlen:

7624 (+ 316)

(– 28)

7624 (+ 288)

»Hab’ ich’s nicht gesagt – sie haben größere Verluste! Heute besiege ich Blücher. Geh jetzt, bring mir die Daten, aber geh rasch, rasch...«

Ich stand auf und ging hinaus.

*

Sie waren hochgewachsen, verließen ihre Räume selten, hockten vor den Projektionsschirmen, waren mit großem Ernst bei ihren Spielen, interessierten sich für alles mögliche und für nichts, fanden ihr Dasein selbstverständlich, waren nicht dumm, hatten einen guten Kern, konnten sich wirklich begeistern, ließen sich nichts entgehen, merkten nicht, daß die Zeit verstrich, vermieden jede Anstrengung, führten ein hygienisches Leben, waren manchmal unzufrieden, wollten nicht gestört werden, nützten ihre Möglichkeiten nicht aus, ergriffen selten die Gelegenheit, lebten ihr Leben, vermieden Entscheidungen, ließen sich von Robotern bedienen, wurden von UV-Strahlern gebräunt, schämten sich nie, waren Egoisten, sahen nicht über ihren Horizont hinaus, wußten nichts von Ackerbau und Viehzucht, hatten eine Leidenschaft für Sport, entwickelten sich nicht weiter, tauchten ihre Hände in destilliertes Wasser, entfalteten sich nicht, hatten eine gute Verdauung, hatten Sinn für das Schöne, waren am Ziel angelangt, lebten in einer Scheinwelt, reizten ihre Sinne mit elektrischem Strom, waren längst abgeschrieben, waren an Überwachung gewöhnt, vertrauten den Maschinen, hörten gern Musik, ließen ihre Muskeln verkümmern, hatten nie ein Stück Himmel gesehen, waren unschuldig, konnten sich nichts anderes vorstellen, waren in eingefahrene Bahnen geraten, fühlten sich ganz wohl dabei – und wenn jemand angeregt hätte, sie sollten ihre Situation überdenken, sich kritisch auseinandersetzen, von den vorgezeichneten Wegen abweichen, so hätten sie ihn nicht verstanden, wären schockiert gewesen oder belustigt, nicht mehr bewegt als über eine Störung im Spiel, hätten sich im Recht gefühlt, und anders konnte es auch nicht sein, denn sie hatten nicht gelernt, Fragen zu stellen über Dinge, die selbstverständlich schienen, und so sahen sie nicht mehr als das, was offen vor ihnen lag, und nicht einmal das, ersparten sich Konflikte, mieden Entscheidungen und nahmen das Leben so wie es war.