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»Auch später haben Sie niemand gegenüber Ihre Tasche auch nur erwähnt.«

»Vermissen Sie den Verlust nicht? Es war doch das einzige, was Sie von draußen mitgebracht hatten!«

»Was befand sich in der Tasche?«

Da war nun die Frage laut geworden, die er insgeheim gefürchtet hatte. Was befand sich in der Tasche? Er hatte schon mehrmals darüber nachgedacht, sich zu erinnern versucht, nebenher, wie über eine Nichtigkeit, die nur dadurch Bedeutung gewinnt, daß man sie vergessen hat, und sich nur deshalb ins Gedächtnis zurückzurufen versucht, um sie mit gutem Gewissen wieder vergessen zu können, aber nun stand er vor einem neuen Problem, vor einer weiteren bedenklichen Wendung im Spiel der Fragen und Antworten, in dem so viel offen bleiben mußte und nun auch das noch offen blieb: Daniel konnte nicht antworten. Was befand sich in der Tasche? Sicher waren es völlig unwichtige persönliche Dinge gewesen, ein Erfrischungsspray, vielleicht einige Tabletten VITALAN, ein Miniprojektor, ein paar Bandkassetten... sollte er diese Dinge auf gut Glück nennen? Aber sicher wäre es vergeblich, genauso wie seine Beteuerungen, die Wahrheit zu sagen.

Und jetzt erst dachte er mit einem kalten Erschrecken daran, daß mit der Tasche seine Vergangenheit verloren gegangen war. Bisher hatte ihn seine Gedächtnisschwäche wenig berührt, er hatte vage Erinnerungen an Wohnblocks, Laufbänder, Parabelbahnen, Luftkissenboote, an Menschen, Kyborgs, Primis, an ein Gewimmel von Gesichtern, Lärm, Rufe, Stimmen, an die Stadt, an draußen, an die Art, wie man sich zu verhalten hatte, wie man anderen begegnete, wie man sprach – nur die persönliche Erinnerung ließ ihn im Stich. Er hatte aber keine Sekunde daran gezweifelt, daß ein geringfügiger Anlaß sein bisheriges Leben wieder heraufbeschwören würde, ein Stichwort, ein Bild, ein Gegenstand... und jetzt schien es ihm, als wäre dieser Brückenschlag zu früher keineswegs mehr selbstverständlich, sondern bedurfte einer besonderen Anstrengung, doch nun war ihm das einzige Mittel, der Schlüssel zur Vergangenheit, genommen.

Er hörte, daß man ihm weitere Fragen stellte, doch er hörte nicht zu, und er antwortete nicht. Er schaltete ab, ließ die Wärme von Pamelas Körper an sich wirken. Sie war wie ein Schirm, hinter dem er sich verkroch, drückte sich ins Kissen, lag starr, merkte, daß ein diffuses Stück Leere in ihn einsickerte, und überließ sich der erquickenden Stille, die über ihn kam.

*

In das Schweigen hinein: Klänge, Gongschläge oder Musik, unaufdringlich, allmählich lauter, synchron mit der Rückkehr in das Wachsein. Daniel öffnete die Augen – das Licht war ebenso gedämpft wie die Glockentöne, und es paßte sich seinem langsamen Erwachen an.

»8 Uhr 03.

Wir hoffen, Sie hatten eine angenehme Nacht.

Keine Anrufe, keine besonderen Vorkommnisse.

Auszug aus dem Tagesprogramm: 9 Uhr 00 ärztliche Untersuchung.

Bitte, holen Sie vorher in der Rezeption Ihre Bons ab!

Wir wünschen einen schönen Tag.«

In der Luft lagen hauchdünne Schwaden glitzernder Tröpfchen. Daniel atmete das belebende Präparat ein – es war parfümiert, roch belebend, vielleicht etwas zu herb, prickelte in der Nasenschleimhaut; er nahm sich vor, an der Skala eine andere Duftnote einzustellen. Aber es erfrischte wunderbar. Er warf die Decke zurück, eine hochelastische Matte aus gebläsegestrickten Hohlfasern, trat mit beiden Beinen zugleich auf den Tartanbelag des Bodens. Er stand auf, räkelte sich. Die Erlebnisse des vorigen Tages lagen weit zurück, im Moment war er auf das Kommende eingestellt. Die ärztliche Untersuchung, eine Formsache – er war gesund. Es konnte nicht mehr lange dauern, und er durfte mit seiner Arbeit beginnen.

Die Automatik unterschied sich kaum von den üblichen Einrichtungen. Als er einen Schritt auf die Wand neben dem Bett zutrat, öffnete sich eine Tür zum Massageraum. Er ließ sich tüchtig durchkneten, nahm ein Ozonbad, vertrieb den letzten Rest von Müdigkeit durch scharfe Wasserstrahlen, die in rascher Folge kalte und heiße Schauer über seine Haut jagten. Er stülpte die Gesichtsmaske über, ließ Augen, Mund und Nase mit Öl durchspülen, die Ohren reinigen, die Haare legen. Zuletzt nahm er die ihm verordnete Dosis UV – gleich auf einmal, dann brauchte er sich den Rest des Tages nicht mehr darum zu kümmern.

Er trat ins Zimmer zurück – inzwischen war das Bett in der Wand verschwunden. Die Automatik überließ ihm die Entscheidung zwischen einer rostroten und einer hellblauen Kombination, dazu leichte Schuhe – Kleidung für einen Tag, synthetische Erzeugnisse, die am Abend in den Müllschlucker kamen. Er wählte die rostrote Kombination, Netzhemd, Overall, Jacke, setzte sich an den Tisch und verwendete einige Sekunden darauf, ein gutes Frühstück zusammenzustellen. Die Versorgung war erstklassig – es gab je zwanzig Geschmacks- und Konsistenzkombinationen für die Kauwürfel sowie die üblichen Sorten Kaffee –, Kaffee-grün, Kaffee-blau, Kaffee-braun, Kaffee-gelb –, selbstverständlich freie Wahl aller Erfrischungsgetränke.

Als er das Mahl beendet hatte und das Tablett in der Wand verschwunden war, leuchtete die perlgraue Projektionswand auf. Er blickte in ein Büro, Sortiertisch, verschiedene Tastaturen, im Vordergrund, in perspektivischer Verzerrung, stehend, eine kräftige Gestalt in weißem Mantel... erst bei näherem Hinsehen bemerkte Daniel, daß es ein Primi war: das breite Gesicht, die platte Nase, das fliehende Kinn, die vorgewölbte Mundpartie, die wulstigen Lippen... das alles aber nur angedeutet, eher ein rohes menschliches Gesicht als das eines Tieres. »Ich hoffe, Sie hatten ein angenehmes Erwachen. Mein Name ist Julius. Ich bin der Sekretär.«

Er sprach langsam, stockend, konzentriert, als bereite ihm jedes Wort Kopfzerbrechen. Trotzdem war Daniel überrascht – Primis pflegten sich nicht in Sätzen auszudrücken, zwar verstanden sie alles, was mit den Hinweisen zusammenhing, die man ihnen gab, aber ihr Wortschatz beschränkte sich auf einige zustimmende oder verneinende Äußerungen, allenfalls auf Namen oder die Bezeichnungen einfacher Tätigkeiten.

»Ihre Marke und Ihre Bons wurden noch nicht abgeholt. Darf ich sie Ihnen bringen?«

»Bitte.«

Eine Minute später ertönte ein Summer, und Daniel gab das Frei-Zeichen. Nun hatte er Gelegenheit, den Primi aus der Nähe zu betrachten: Er sah gutmütig aus, seine dunklen, menschlichen Augen blickten wach, sein Gesicht war mit winzigen, durchsichtigen Härchen bewachsen. Als er Daniel die Marke und die Bons überreichte, schob sich der Ärmel über die Handgelenke zurück – es waren schlanke Gelenke, die in schmale Hände übergingen, nicht die üblichen Affenpfoten.

Daniel war sich unklar darüber, wie er ihn behandeln sollte – ihm einen Sessel anbieten? Das wäre zu weit gegangen. Doch er zögerte, sich selbst zu setzen, und so standen sie einander sekundenlang wortlos gegenüber. Ob man ihm Fragen stellen konnte? Der Primi begann selbst zu sprechen, und es war Daniel, als bemerkte er ein süffisantes Lächeln, obwohl es schwer war, diese Gesichtszüge zu deuten, die aus der Nähe zwar nichts an Gleichmaß verloren, aber doch fremdartig wirkten. Seiner Stimme war nichts anzumerken. »Verzeihen Sie, daß ich hergekommen bin – ich hoffe, es stört Sie nicht. Aber es ist besser, die Marken persönlich zu übergeben.«

»Hätte das nicht Zeit gehabt?« fragte Daniel etwas schroff, und jetzt setzte er sich demonstrativ.

»Ihre alte Marke nützt hier nichts. Wir haben hier ein anderes System, als Sie es von draußen gewohnt sind. Das Engramm ist vollständiger. Daher die genaue Aufnahme Ihrer Kennzeichen. Wenn Sie diesen Schieber herausziehen, wird Ihr Standort laufend registriert – alle Anrufe und Meldungen gehen dann sofort an Sie weiter. Am besten, Sie lassen ihn geöffnet.«

»Dann wird jeder meiner Schritte überwacht?« stellte Daniel peinlich berührt fest.

»Keineswegs! Es bleibt ja Ihnen überlassen, ob Sie sich dazu entschließen. Das Prinzip der Freizügigkeit! Es ist nur bequemer, Sie werden sehen.« Er beugte sich vor, steckte Daniel die Marke an den Kragen, entfernte die alte, steckte sie ein. »Die brauchen Sie nicht mehr.«