»Kein angenehmer Gedanke«, meinte Daniel und griff nach einer Riechkapsel. »Normalerweise kann man doch wenigstens nachträglich erkennen, womit sie einem eine Falle stellen wollten.«
»Ein Test hat nur Sinn, wenn man ihn nicht als Test erkennt. Überlegen Sie doch: Sie merken es – eine gestellte Situation. Sie reagieren nicht spontan, sondern so, wie Sie meinen, daß man es von Ihnen erwartet. Die Psychologen müssen das in die Rechnung einkalkulieren, was die Sache schwierig macht. Doch damit nicht genug: Sie stellen sich darauf ein, den Psychologen sei bekannt, daß Sie die Situation als Teil einer Prüfung erkennen. Dann modulieren Sie Ihre Verhaltensweise noch einmal, nämlich so, daß sie auch unter diesem Aspekt noch gut benotet wird. Das müssen aber auch die Psychologen berücksichtigen. Mit anderen Worten: Solche Rückkopplungen würden die Analyse außerordentlich erschweren. Ich kann die Seeleningenieure auch nicht leiden, aber in diesem Punkt muß ich ihnen recht geben.«
»Ist es nicht doch irgendwie möglich, zu erkennen, was ein Test war und was nicht – zum Beispiel durch die Logik der Konsequenzen?«
»Das wissen sie zu verhindern; sie konstruieren ihre Testsituationen logisch oder pseudologisch. Wenn sie eine Serie beendet haben, führen sie die Ereignisketten fort, nur um keine Anhaltspunkte zu geben, und knüpfen später daran an, wenn es nötig ist.«
»Wann ist die Zeit der psychologischen Prüfung vorbei?«
Wieder lächelten sie über diese Frage. »Nie. Die Psyche ist ja nichts Unveränderliches. Sie kann jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten, und das können wir hier nicht riskieren. Man muß immer lernen und sich immer prüfen lassen. Die Tests gehen weiter, sie sind ein Teil der Wirklichkeit geworden. Doch Sie werden sehen – daran gewöhnt man sich. Im Gegenteiclass="underline" Gerade durch diese permanente Testsituation verliert man jede Angst vor einer Psychoprüfung. Es gibt nichts zu befürchten.«
»Widerspricht das nicht dem Prinzip der Freizügigkeit?«
Benedikt schüttelte den Kopf.
»Keineswegs! Es sichert unsere Freiheit und die der andern. Schließlich wird von hier aus die Welt gesteuert.«
Sie fügten sich dieser Argumentation – er sah es an den Gesichtern, die nach wie vor freundlich waren. Es waren die ersten Menschen, mit denen er sich verständigen konnte, die seine Sprache sprachen, die seine Gedanken dachten. Er gehörte zu ihnen, und das ließ die Ungereimtheiten seines bisherigen Aufenthalts unwichtig erscheinen. Unauffällig musterte er seine neuen Kollegen: Benedikt bewegte sich ruhig und gelassen, er strahlte Zuversicht aus, was er sagte, sagte er klar und abschließend; ihm schien die Führungsrolle zuzufallen. Larry, mit seinen dunklen, braunen Augen, seinem strähnigen Haar, seiner ins Gesicht geschriebenen Gutmütigkeit, erweckte sofort Vertrauen. Er schien geduldig genug, um Fragen anzuhören und ausführlich zu beantworten. Maud – eine Frau, die sich pflegte und Geschmack hatte. Die Gesichtsform, die sie gewählt hatte, entsprach nicht den üblichen Normen, dazu waren die Lippen zu voll, die Backenknochen zu betont – also eine Persönlichkeit mit eigenem Willen, offenbar intelligent, sonst wäre sie nicht hierher delegiert worden. Sie saßen so, daß sie das Spiel des Kaleidoskops im Gesichtsfeld hatten, und manchmal erschien auf ihren Gesichtern der Widerschein von sattem Rot oder fahlem Blau.
Benedikt ließ die Lehne seines Sessels um ein weniges nach rückwärts gleiten und wandte sich erneut an Daniel.
»Ich kann mir denken, daß Sie noch etwas verwirrt sind, doch das ist uns allen so gegangen. Sie wissen ja, was wir hier zu tun haben, und mit den Maschinen sind Sie vertraut. Gewiß gibt es hier Besonderheiten, Abweichungen vom Standard, aber das liegt daran, daß unsere Anlagen ständig erneuert werden; es sind die besten, die es gibt! Im übrigen können Sie der Automatik vertrauen; wir kommen im großen und ganzen gut mit ihr aus. Sie hat Geduld mit uns, stellt sich auf uns ein.
Für Sie ist es sicher am besten, wenn Sie sich rasch mit allem vertraut machen. Ihr Arbeitsplatz liegt neben dem von Maud – vielleicht ist es am besten, wir bitten Maud, Ihnen das Wichtigste zu erklären. Würden Sie es tun, Maud?«
»Gern«, sagte Maud und stand auf. »Kommen Sie!«
»Wir sehen uns später!«
Maud führte ihn durch einige Räume, die sich kaum voneinander unterschieden, Arbeitszellen, die üblichen durchsichtigen Wände, Ein- und Ausgabegeräte für den Computer.
»034 quer 269 quer 578. Das ist Ihr Reich, Daniel«, sagte Maud. Sie deutete über die Geräte hin, die wenig Abwechslung zeigten – blau und grau verkleidete Einheiten mit Schaltpulten, Projektoren, Tastaturen, Sichtschirmen.
»Am besten, Sie gehen die Checkliste durch«, schlug Maud vor. »Geben Sie mir die Bons für die Rechenzeit.« Sie legte die Rolle in die dafür vorgesehene Vertiefung in der Platte des Pultes. Mit spielerischer Leichtigkeit ließ sie ihre Finger über die Tasten gleiten, auf dem kleinen Bildschirm des Panels erschien der erste Kasten eines Lehrprogramms.
Daniel blickte Maud an, und Maud Daniel. Dann lachten sie beide.
»Zu langweilig, nicht wahr?« fragte Maud. Sie öffnete eine Klappe und zog ein Kabel hervor, das in einem Kontaktkopf endete. »Wenn Sie ungestört sein wollen, drücken Sie diesen Knopf – sehen Sie.« Die Wände wurden undurchsichtig, die Intensität des Lichtes sank auf den niedrigsten Grad. Daniel strich eine Haarsträhne beiseite und legte die münzengroße kahle Ansatzstelle frei. Der Kontaktkopf paßte. Maud drückte wieder einige Tasten... Daniel schloß die Augen, seine Hände umkrampften die Lehnen des Stuhls – das half gegen das leichte Schwindelgefühl durch das Flimmern, das den Zustrom der Information anzeigte. Chaotisch wechselnde Bilder, Begriffe, Zahlen, wie sie der Zufall aus dem logischen Kontinuum herausholt.
Fünf Minuten, dann das Wecksignal. Daniel zog selbst den Kontakt ab, strich die Haare über die Haftstelle.
»Die erste Lektion«, sagte Maud. »Zehn Lektionen – und Sie kennen alle Geheimnisse der Automatik.«
»Wir haben viel Zeit gewonnen«, meinte Daniel. Er stand auf und trat hinter Maud, die sich auf den Besucherstuhl gesetzt hatte. Er strich ihr über die Haare, von denen ein zarter Duft ausging, tastete mit den Fingern über ihren Kopf, fand die kahle Stelle.
»Ja, viel Zeit«, bestätigte Maud. Sie stand auf. »Am besten, wir gehen in mein Appartement.«
Abend, die Uhr zeigte 22:10, Daniel machte sich zur Nachtruhe bereit, als das Rufsignal ertönte. Er unterbrach das Assoziationsspiel, das er eingestellt hatte, und gab das »bereit«-Zeichen. Die Projektionswand verdunkelte sich und blieb schwarz, als sich der Anrufer meldete: »Wollen Sie nicht zu einer Sitzung kommen? Raum 023 quer 181 quer 116. Aber schließen Sie den Schieber Ihrer Erkennungsmarke!«
Daniel schwankte kurze Zeit zwischen Müdigkeit und Neugier, erinnerte sich der unangenehmen Erlebnisse des Vortags, war froh, daß dieser Tag auf angenehme Weise vorübergegangen war, und lehnte ab – er sei müde, sei gerade im Begriff, schlafen zu gehen, ein anderes Mal...
»Es wird Sie vielleicht interessieren, daß wir Ihre Tasche in Besitz haben. Wir sind selbstverständlich bereit, sie zurückzugeben. Sie werden verstehen, daß wir die Rohrpost nicht dazu benützen wollen. Wir nehmen an, Sie kommen.«
Es knackte. Der Anrufer hatte abgeschaltet. Ärgerlich stellte Daniel das Assoziationsspiel wieder an – er verzichtete darauf, den versäumten Abschnitt wiederholen zu lassen, die Bildfolgen waren frei gereiht, Traummotive, futuristische Landschaften, phantastische Geschöpfe, Farbvisionen von konkreten Lauteffekten begleitet, alle emotional betont, eine Folge von Mutungserlebnissen. Er streckte sich in seinem Liegesessel, doch es gelang ihm nicht mehr, sich auf die Bilder zu konzentrieren. Er schaltete die Projektion aus, nahm eine Schlaftablette und legte sich zu Bett. Er sank in tiefe, traumlose Nacht, doch nach einiger Zeit schreckte er auf, er wußte nicht, was ihn geweckt hatte, eine Bewegung, ein Geräusch... als er die Augen öffnete, war es dämmrig, die Leuchtröhren glühten schwach. War es falsch gewesen, daß er seine Tasche nicht geholt hatte? Der Gedanke daran quälte ihn, ließ ihn nicht wieder einschlafen, im Gegenteil, er war hellwach, so wach, daß er es nicht mehr ertrug, tatenlos dazuliegen. Ob es noch Sinn hatte, den genannten Treffpunkt aufzusuchen? 023 quer 181 quer 116. Er konnte es versuchen.