Sie sagen, es sei unnatürlich. Ich glaube, es ist der vorgezeichnete Weg. Wir dürfen glücklich sein, daß wir ihn heute ein Stück weiter gehen dürfen. Sie sagen, wir seien am Ende. Ich meine, daß wir erst am Anfang stehen.«
»Ein interessanter Aspekt«, sagte Daniel, nur um nicht stumm zu bleiben.
»Denken Sie darüber nach! Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.« Der Alte schloß die Augen, ein Primi trat hinzu, schob den Wagen an. Dabei glitt die Decke ein wenig tiefer hinunter, und Daniel sah, daß die Gestalt, die in den Kissen saß, vom Kinn abwärts keinen menschlichen Körper mehr hatte.
Noch eine längere Schlafperiode, dann kam Daniel für einige Minuten in eine Reanimationszelle. Frisch, körperlich und geistig gestärkt, stand er vor Solla, der ihn befriedigt musterte. »Sie haben sich glänzend erholt. Ihr kleines Erlebnis hat uns sehr geholfen – es hat uns an Ihre schwache Stelle geführt. Ein paar falsch gebahnte Leitungen, nichts weiter. Ich nehme an, daß Sie jetzt ideal im Gleichgewicht sind. Wir brauchen Sie nicht länger festzuhalten. Hier ist Ihre Erkennungsmarke, hier Ihr Eigentum.« Er deutete auf ein Regal, auf dem, mit einem Etikett versehen, die Tasche lag.
Daniel bedankte sich. Er nahm die Tasche auf, drehte sich wieder zu Solla um. »Darf ich eine Frage stellen?«
»Aber sicher!« Die grauen Haftschalen wandten sich ihm zu.
»Wer bin ich?« fragte Daniel. »Woher komme ich?«
Solla trat zurück, griff nach einem Spray und zerstäubte eine kleine Dose Duftessenz. »Setzen Sie sich!« Er selbst zog einen Sessel heran, wies auf einen andern. »Ihre Identität? Eine berechtigte Frage. War zu erwarten. Es muß Ihnen ja auffallen, daß Ihre Erinnerung gelöscht ist. Dafür, auch das haben Sie sicher überlegt, dürfte es einen Grund geben.« Er nahm die Schachtel mit Erfrischungskapseln vom Regal, bot sie Daniel an. Dieser lehnte ab.
»Gab es einen Grund, so könnte er jetzt auch noch bestehen. Dann würde ich mich weigern, etwas darüber zu sagen – vorausgesetzt, Ihre Vergangenheit wäre mir bekannt. Oder ich würde Ihnen eine falsche Identität geben. Sie hätten keine Möglichkeit, herauszufinden, ob es die Wahrheit ist oder nicht. Sie hätten Zweifel. Es wäre genausogut, als hätte ich geschwiegen.«
»Ich würde mich erinnern«, wandte Daniel ein.
»Das wäre kein Beweis. Wir hätten Ihr Unterbewußtsein mit einer falschen Identität ausstatten können. Einige Stichworte würden sie Ihnen gegenwärtig machen. Sie würden sich an etwas erinnern, das Sie in Wirklichkeit nie erlebt haben.«
»Dann ist meine Identität für immer verloren?«
»Aber nein!« Solla winkte beruhigend ab. »Eines Tages werden wir Sie selbst informieren, und das brauchen wir ja nicht zu tun, um Ihnen etwas Falsches zu sagen.«
»Und wenn es doch nicht die Wahrheit ist?«
Solla stand auf, blickte auf die Uhr, als hätte er es plötzlich eilig.
»Was bedeutet Wahrheit und Unwahrheit? Tatsache ist, daß wir Sie mit jeder beliebigen Identität ausstatten können. Wann ist diese Identität falsch? Wann ist sie richtig? Was in Ihrem Gehirn als Vergangenheit gespeichert ist, bildet das Bezugssystem für Ihr heutiges Handeln. Es ist weder wahr noch falsch, sondern effektiv oder nicht, und nur auf diese Kategorien kommt es an. Wir sind Psychologen, Praktiker, keine Philosophen. Eine Identität kann einem Charakter oder einer Situation angemessen sein oder nicht. Das ist für uns die richtige oder die falsche Identität.«
»Aber«, sagte Daniel, der sich nun auch erhob, »ich handle doch nach Erfahrungen, die aus meiner Vergangenheit stammen, wenn ich sie mir auch nicht vergegenwärtigen kann. Ist das nun die richtige oder die falsche Vergangenheit?«
»Die richtige«, sagte Solla freundlich. Er legte Daniel die Hand auf die Schulter und führte ihn zur Tür.
Daniel benutzte den Lift, um sich an seinen Arbeitsplatz bringen zu lassen. Er traf Benedikt, der vor einem Panel saß und ihn bat, sich neben ihn zu setzen. Er unterbrach seine Arbeit nicht, tastete Befehle ein, studierte eine Kurve auf dem Leuchtschirm, drückte wieder einige Tasten. Winzige Lämpchen flimmerten, zeigten den wechselnden Inhalt des Arbeitsspeichers an. Benedikt warf noch einen Blick darauf, dann drehte er mit einer schwungvollen Bewegung den Stuhl herum und lächelte Daniel zu. Dieser setzte zu einer Erklärung an, doch Benedikt sagte: »Lassen Sie nur – es geht uns allen so: Von Zeit zu Zeit kriegen uns die Psychofritzen zu fassen. Sind Sie einigermaßen ungeschoren geblieben?«
Daniel nickte: »Mir fehlt nichts, ich fühle mich wohl!«
»Gut so«, meinte Benedikt. »Sie haben es überstanden. Man muß es nehmen, wie es kommt. Sie sind ja noch jung. Manche kriegen das große Zittern, wenn man sie holt. Sicher ist es nur Sentimentalität, aber man hängt an seinem Körper. Mit jedem Organ, das ersetzt wird, geht ein Stück davon verloren – jedenfalls empfinden es viele so. Andererseits: Die Mediziner tun ihr Bestes. Solange es Organersatz gibt, verzichten sie auf Metall und Kunststoff. Keiner muß befürchten, am nächsten Tag als Kyborg aufzuwachen. Kybernetische Ersatzteile werden nur eingesetzt, wenn die Genehmigung dazu vorliegt.«
»Wer gibt die Genehmigung?« fragte Daniel.
»Der Erkrankte selbst. Solange das Gehirn nicht betroffen ist, kann er entscheiden.«
»Und wenn das Gehirn betroffen ist?«
»Wenn kein Ersatz durch organisches Material mehr möglich ist, bleibt nur noch eines, um den Rest der Persönlichkeit zu retten: Anschluß an das Schaltsystem.«
»Hat man dann noch die Möglichkeit, zu handeln? Lebt man dann noch?«
»Aber sicher: umfassender als vorher. Es besteht Zutritt zu sämtlichen Speichern, zu sämtlichen Eingabegeräten und Sonden, und damit auch zur Außenwelt, weiter zu allen peripheren Verarbeitungseinheiten und schließlich Verbindung zu den Aktions- und Steuerzentren, was bedeutet, daß größere Eingriffsmöglichkeit besteht, als wir sie jetzt zum Beispiel haben.«
»Wenn es vorteilhaft ist, ins Schaltnetz integriert zu sein, warum muß man dann abwarten, bis ein Gehirnschaden vorliegt?«
»Man braucht nicht abzuwarten. Jeder kann sich integrieren lassen.«
»Doch es gibt dann kein Zurück?«
»Das ist der springende Punkt«, sagte Benedikt. »Da niemand weiß, in welcher Form der Selbsterkenntnis man dann existiert, schrecken die meisten davor zurück.«
»Sie auch, Benedikt?« fragte Daniel.
»Es besteht keine Eile«, antwortete Benedikt. »Wir versäumen nichts. Ich habe allerdings den Eindruck, daß unser Dasein hier nur ein Übergangsstadium ist. Was wir tun, kann von INNEN aus genausogut oder besser getan werden.«
»Was haben wir für eine Aufgabe?« fragte Daniel.
»Ich würde es Ihnen gern sagen – wenn ich es selbst wüßte. Leider gibt es keine Vorschriften, keine Anweisungen oder Befehle.
Wir haben unserer eigenen Verantwortlichkeit zu folgen. Vielleicht ist unsere Aufgabe nur geschichtlich zu verstehen.«
»Wie meinen Sie das?«
Benedikt zögerte, durch eine Veränderung im Lichterspiel auf der Konsole abgelenkt. Jetzt erschienen Muster, die sich in kurzen Abständen wiederholten. Dann erstarrte die Bewegung – eine Figur schien auf der Mattglanzschicht des Bildschirms zu haften. Benedikt drückte eine Taste. Im Rechteck erschien ein Schriftzug:
LOGISCHER FEHLER IN ZEILE 262
ERBITTE KORREKTUR
Benedikt seufzte. Er zog das magnetbedruckte Programmformular aus dem Schlitz und zog es bis zu Zeile 262 durch. Dann wandte er sich zum Nebenrechner, tastete einige Zahlen ein, drückte die Korrekturtaste. Man hörte das Surren der rotierenden Trommeln.