Wieder lachten sie, tranken. Über die Transparenz ihrer Gedanken legte sich ein leichter Nebel. Die Assoziationen gelangen noch leichter, die Erkenntnisse rasteten schneller ein, das Wirkungsgefüge war diffus, aber weithin erhellt.
»Das wünsche ich mir auch«, sagte Larry. »Dazu reicht aber unsere gegenwärtige Existenzform noch nicht aus. Die indirekte Art, auf die wir uns mit dem logischen System verständigen, bildet ein zu großes Hindernis.«
»Die Integration – das ist die Lösung.«
»Ja. Wir müssen uns mit der Maschine verschwistern, anders geht es nicht, anders kommen wir nicht weiter. Es ist, als wolle man fliegen, einfach so, ohne Flügel, sich in die Lüfte erheben. Ohne Hilfsmittel ist uns das verwehrt, aber heute genießen wir diese Hilfe. Es gab einmal eine Zeit, da stand dem Menschen die Natur gegenüber, mit der er sich auseinanderzusetzen hatte. Später stand ihm der Mensch gegenüber, und sonst nichts. Heute ist es das logische System, mit dem wir in Wechselwirkung stehen. Doch diese Wechselwirkung hat den Aspekt des Konflikts verloren. Es ist die Wechselwirkung der Symbiose.«
Es waren nur geringfügige Veränderungen – eine hinuntergedrückte Taste, eine verstellte Ziffer im Zählwerk des Nebenrechners, gekippte Armstützen des Stuhls –, die Daniel stutzig machten. Als er die Hand auf die Sitzfläche legte, fühlte er noch die Wärme: Es konnte erst Sekunden her sein, daß sich jemand an seinem Arbeitsplatz zu schaffen gemacht hatte.
Daniel setzte sich an den Bildschirm und ließ sich rasch hintereinander die Sicht der umliegenden Gänge geben. Schon beim vierten Versuch bemerkte er eine verdächtige Bewegung, einen Mann, dem Fernsehauge abgewandt, der hastig das Weite suchte. Daniel beherrschte die Steuerung bereits so gut, daß es ihm leicht fiel, die Gegensicht zu bekommen: Jetzt eilte der Verdächtige auf ihn zu, und er sah, daß es der schwarzhaarige Unbekannte war, der ihm die Tasche entrissen hatte. Daniel ließ ihn automatisch weiterverfolgen was früher oder später zur Identifizierung führen mußte, konnte aber dennoch den Wunsch nicht unterdrücken, ihn persönlich zu stellen. Er schätzte die Wegrichtung des Verdächtigen ab und lief hinterher. Da es ihm gleichgültig war, ob er auffiel oder nicht, und er nicht auf die Menschen achtete, die ihm erstaunt nachblickten, kam er rasch voran – schon nach einer knappen Minute erblickte er den Gesuchten. Aber auch dieser bemerkte seinen Verfolger und schlug ein rascheres Tempo ein. Zunächst hatte es den Anschein, als liefe er auf eine Liftstation zu, doch fürchtete er offenbar, nicht schnell genug in der Kabine verschwinden zu können, bog in einen Nebengang ab und beschleunigte seine Schritte.
Sie rannten an mehreren Leuten vorbei, die an Theken saßen, Bier tranken oder Lachgas inhalierten, aber niemand beteiligte sich an der Jagd. Während der Schwarzhaarige zuerst unsicher gewirkt und seine Richtung mehrmals gewechselt hatte, lief er nun zielstrebig geradeaus, erreichte eine der Spiralterrassen und rannte bergauf, was zwar langsamer ging und seinen Verfolger etwas näherkommen ließ, aber beiden Kraft kostete, so daß der Abstand bald gleich blieb und sogar wieder größer wurde, als sich die Verfolgung in einem waagrechten Korridor fortsetzte.
Diese Gegend war Daniel bekannt: Sie mochten sich nicht weit von jenem Trakt befinden, in dem er seine Begegnung mit den Mutanten gehabt hatte. Der Unbekannte lief nun in einen langgestreckten Saal hinein, in denen ganze Reihen von Gleittischen standen, darauf Wannen, durchsichtig, und mit trüber Flüssigkeit gefüllt, Nährlösungen mit Zellkulturen, manche formlos, schleimig, Gallerten, in anderen: Organe, noch halb entwickelt, aber schon erkennbar, Herzen, Lungen, Nieren, undefinierbare Drüsensysteme, Adern, Darmschlingen, wieder in anderen Embryos von Menschen oder Tieren, blaß und durchsichtig, mit großen Fischaugen, Stummeln von Gliedmaßen, Saugnäpfen, Tentakeln...
Sie liefen zwischen den Wagen hindurch, und der andere wurde merklich langsamer – Daniel glaubte schon, ihn gefaßt zu haben, da wandte der einen besonders üblen Trick an: Er gab den Wagen gezielte Stöße, so daß sie in den Gang rollten und Daniel Mühe hatte auszuweichen. Beim ersten gelang es ihm noch, dann aber, als ihm der zweite plötzlich im Weg stand, konnte er nicht mehr bremsen, er streifte ihn, riß die Wanne herunter, die am Boden zerschellte, aber noch war der Schwarze dicht vor ihm, und da es nun einmal geschehen war, nahm Daniel keine Rücksicht auf sein Mißgeschick, stürmte weiter, versuchte, die Laufwagen beiseitezustoßen, rannte noch einen um und noch einen, verfing sich, stürzte, um ihn herum eine schal riechende Lache, ein schlapp pulsierendes Gebilde, einer entschälten Muschel ähnlich. Er lag da, betäubt vom Sturz, vom ekligen Geruch, vor Erschöpfung, vor Schreck, vor Ärger, er fühlte sich unsanft emporgerissen... Vor ihm die zwei Biologen, denen er schon begegnet war. Fenner hieß der eine, den Namen des anderen kannte er nicht. Beide zeigten sich ärgerlich, entrüstet. Sie machten ihm Vorhaltungen, rügten sein Benehmen, schreckten vor Beleidigungen nicht zurück, und Daniel, atemlos von der ungewohnten Anstrengung, sah sich nach dem Unbekannten um, wollte auf ihn deuten, aber er war nicht zu sehen, war verschwunden, vielleicht hatte er sich versteckt oder es war ihm gelungen, sich davonzumachen, und so konnte Daniel keine Erklärung geben, brachte kein Wort heraus, zitterte vor Wut und Erschöpfung, rang nach Luft.
Die Biologen halfen ihm unsanft auf, führten ihn, noch immer murrend, in einen Nebenraum. An einem großen sechseckigen Tisch saßen drei alte Bekannte: Figueira, Miriam und Julius, der Primi. Als sie Daniel erkannten, zeigten sie sich bestürzt, und Figueira sprang auf und flüsterte den Biologen etwas zu, die sich daraufhin etwas höflicher zeigten und ihn baten, mit ihnen am Tisch Platz zu nehmen.
Offenbar waren sie bei einem Spiel gestört worden. Sie erkundigten sich bei Daniel, ob es ihn stören würde, wenn sie weiterspielten, und Daniel beeilte sich zu versichern, daß er froh wäre, wenn er sie nicht weiter von ihrer Beschäftigung abhielte. Jeder hatte ein kreisrundes Plättchen vor sich liegen, eine Scheibe, münzengroß, die eine Seite weiß, die andere schwarz, auf der weißen eine 1, auf der schwarzen eine 0. Einer nach dem anderen nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger, stellte es senkrecht auf, ließ es rotieren, bis es über eine Kante zu kreisen begann, wobei sich eine Seite, die schwarze oder die weiße, nach oben wandte und dann schließlich aufgedeckt liegen blieb: schwarz oder weiß, 0 oder 1.
Die Zählungsweise war einfach.
0 + 0 = 0
0 + 1 = 1
1 + 0 = 1
1 + 1 = 0
Jedes Ergebnis wurde zum vorhergegangenen dazugezählt. Spieler war jeweils der letzte in der Runde. Kam die Endsumme 0, so hatte er verloren, kam die Endsumme 1, so hatte er gewonnen. Er mußte aber den Verlust nicht annehmen, sondern konnte seinen Einsatz verdoppeln. Dann wurde eine Runde weitergespielt, wieder bis zu ihm, und wieder konnte er entscheiden, ob er den Verlust akzeptieren oder eine Runde weiterspielen wollte.
Daniel sah den andern zu. Es dauerte eine Weile, bis er die Spielregeln begriff, alles ging mit wenig Worten vor sich, ein paar Zahlen, »gewonnen«, ein paar kurze Bemerkungen, »verloren«, oft zeigte der Spieler nur durch Gesten an, ob er den Verlust annehmen oder verdoppeln wollte – er hob einen Finger, bei der zweiten Runde zwei, und so fort. Alle gaben sich gelassen, nur Figueira schien nervös zu sein, er hatte einen Zettel vor sich liegen und notierte die Folgen der Binärziffern. Wenn die Entscheidung, weiterzuspielen oder zu verlieren, an ihm war, überlegte er lange. Worum sie spielten, war nicht zu erkennen. Daniel beruhigte sich allmählich. Obwohl er sich in dieser Runde keineswegs wohl fühlte, war er doch dankbar, daß man ihm sein Mißgeschick nicht weiter übel nahm. Da er sich nicht umzusehen wagte, horchte er nach hinten; aus der Halle kamen Geräusche – Schleifen, Zischen, Klirren von Glas – offenbar waren automatische Reiniger oder auch Primis dabei, die Scherben wegzuräumen, die Rückstände der Nährlösungen und ihren unappetitlichen Inhalt vom Boden zu entfernen.