Vor seinen Augen drehte es sich, und er bot alle Kräfte auf, um das Schwindelgefühl zu unterdrücken. Nach einigen Sekunden oder Minuten – er vermochte die Zeitspanne nicht abzuschätzen – wurde ihm etwas besser, er konnte die Augen wieder öffnen, ohne daß ihm schlecht wurde. Vorbeigleitende Zahlen... jetzt merkte er, daß sich der Lift in Bewegung gesetzt hatte.
Wohin?
Er richtete sich auf – die Koordinaten zeigten eine Richtung an, die weder zu seinem Appartement noch zu seinem Arbeitsplatz wies. Die Zahlen wechselten zu immer kleineren Werten.
Daniel drückte die Stoptaste, doch die Kabine fuhr weiter. Er versuchte es mit den Koordinaten seines Appartements... keine Reaktion.
Also abwarten.
Die Zahlenwerte sanken Ziffer um Ziffer.
Bei 000/000/000 war die Fahrt zu Ende. Er versuchte noch einmal andere Koordinaten einzutasten... nichts.
Auch die Tür öffnete sich nicht so, als hätte er keine Kennmarke. Daniel zog jene, die ihm der Biologe angesteckt hatte, vom Kragen... der Schieber stand offen, auf dem braunen Metall stand seine neue Kennzahclass="underline" 000/000/000.
Als er in seinem Appartement erwachte, hatte er die dumpfe Erinnerung an einen gräßlichen Traum, und er fühlte sich schlecht – war niedergeschlagen, inaktiv, hoffnungslos. Er brauchte drei Tabletten DELEATON, bis er von diesen Emotionen befreit war. Selbst dann noch ertappte er sich mehrmals beim unbeabsichtigten Versuch, die Erinnerungsfetzen zu einer logischen Folge zusammenzufügen, und erst eine doppelte Dosis ANTIREMEMB forte befreite ihn davon.
Als er seinen Arbeitsplatz aufsuchen wollte, sah er zu seinem Erstaunen jemand andern dort sitzen, einen jungen, hochaufgeschossenen, häßlichen Mann. Daniel überzeugte sich, daß er sich nicht im Raum geirrt hatte, ging dann auf den andern zu und fragte ihn, was er hier zu suchen habe.
»Dieser Platz wurde mir zugeteilt«, sagte der Unbekannte. »Ein Irrtum ist völlig ausgeschlossen. Sehen Sie – meine Nummer... sie stimmt mit den Raumkoordinaten überein.« Er nestelte sie vom Kragen los: 037/170/155 stand darauf – der junge Mann hatte recht.
»Das ist meine Marke«, rief Daniel. »Geben Sie her!« Er machte Anstalten, sie dem andern zu entreißen, doch dieser wehrte sich: »Sie haben doch selbst eine Marke – mit einer andern Nummer!« Von den lauten Stimmen angelockt, eilten die Kollegen aus den benachbarten Räumen herbei und erkundigten sich nach der Ursache des Streits. Larry prüfte die Marke des jungen Mannes, bat dann Daniel, ihm seine Marke zu zeigen, zeigte sich betroffen, entschuldigte sich bei dem Fremden, bat Daniel, mit ihm zu kommen. Sie gingen hinüber zu Mauds Zimmer, und Larry schloß die Tür.
»Er hat eine Null-Marke«, sagte er zu Maud, die sich auf die Kante des Tisches gesetzt hatte und die Beine baumeln ließ, dann wieder ausstreckte und sich mit den Zehen an der Stuhllehne abstützte. Jetzt trug sie dunkelblaue Haftschalen, einen knöchellangen Elastik-Rock aus schwarzem Netzstoff, einen kurzen, knopflosen weißen Kittel, den sie mit dem Gürtel nur lose zusammengezogen hatte. Wie jeder sehen konnte, trug sie nichts darunter.
Als Larry merkte, daß Maud nicht zuhörte, wandte er sich wieder an Daniel. »Es ist doch nicht möglich, daß Sie Ihre Bons schon verbraucht haben! Lassen Sie sehen!«
Daniel kramte in den Taschen, doch er fand die Bons nicht. Larry wurde ungeduldig.
»Was ist vorgefallen, Sie brauchen doch nichts zu verschweigen!«
In Daniel pochte wieder ein vage Erinnerung, und jetzt ärgerte er sich darüber, daß er sie zu unterdrücken versucht hatte. Die Wirkung der Drogen war noch ungehemmt wirksam.
»Ich muß einen albernen Traum gehabt haben«, sagte er, »irgendeine verworrene Sache – ich habe ein Beruhigungsmittel genommen. Im Moment kann ich mich nicht erinnern, ich brauche mich gar nicht zu bemühen. Aber es steht doch sicher in keinem Zusammenhang damit, daß meine Marke vertauscht wurde. Und die Bons habe ich sicher im Zimmer vergessen.«
»Ich glaube«, sagte Larry, »Sie sind sich nicht im klaren darüber, was der Verlust der Bons bedeutet.«
»Was würde er bedeuten?«
Larry schien sich allmählich zu beruhigen. Er überlegte, antwortete langsam, man merkte, daß er mit seinen Gedanken woanders war. »Es bedeutet, daß Sie sich entscheiden müssen. Aber es ist Wahnsinn. Sie haben nicht einmal das Einführungsprogramm absolviert. Normalerweise kommt man mit 20 000 Sekunden hundert Jahre aus, wenn man sparsam ist, auch länger!«
»Aber ich sagte Ihnen doch, daß ich die Bons nur vergessen habe.«
»Und die Nullmarke?«
»Was bedeutet sie schon?« fragte Daniel. Er nahm die Marke an sich, 000/000/000 – eine beklemmende Zahlenkombination.
»Daß Sie ausgeschieden sind«, antwortete Larry. Er nahm Daniel die Marke aus der Hand, sah sie an.
»Wie sind Sie überhaupt hierhergekommen?«
»Zu Fuß. Ich wollte Bewegung haben.«
»Ja«, wiederholte Larry, »es bedeutet, daß Sie ausgeschieden sind. Sie haben keinen Arbeitsplatz mehr bei uns, kein Appartement, keine Rechte.«
Maud saß noch immer desinteressiert auf der Tischkante. Sie hatte sich etwas herumgedreht, so daß sie nun dem jungen Mann im Nachbarraum zugewandt saß. Er war aufmerksam geworden und starrte sie an. Sie glitt vom Tisch herunter und ging zur Tür – mit kleinen Schritten, der Netzstoff ihres Rocks spannte sich bei jedem Schritt eng um ihre Beine. Die Tür öffnete sich, sie ging weiter und blieb vor dem Unbekannten stehen. Die Tür schloß sich wieder.
Larry und Daniel beobachteten es ohne Anteilnahme.
»Und was bedeutet 000 quer und so weiter?«
»Der Nullpunkt des Koordinatensystems, Ausgangs- und Bezugspunkt. Anfang und Ende. Sperrgebiet. Noch niemand von uns war dort. Niemand weiß etwas darüber, nur Vermutungen.«
»Was für Vermutungen?«
»Zwischenstufe, Übergang, Wartesaal zu weiteren Bereichen – aber fragen Sie nicht weiter, ich kann nichts Näheres darüber sagen. Hören Sie!« Er unterbrach sich. »Erstaunlich! Die Marke ist gefälscht!« Er wischte mit der Hand darüber hinweg – die Ziffern ließen sich löschen, verschwanden. »Eine echte Hülle, doch darin ein leeres Stück Metall. Die Ziffern mit Deckfarben darüber gemalt. Das ist außerordentlich seltsam.«
Daniel nahm es als Anlaß, wieder Hoffnung zu schöpfen.
»Ich sagte Ihnen doch...«
»Wer mag Ihnen diesen Streich gespielt haben?«
»Mir fällt etwas ein!« Daniel erinnerte sich an sein gestriges Erlebnis, an den Schwarzhaarigen, der sich an seinem Arbeitsplatz zu schaffen gemacht hatte. Er hatte ihn verfolgt... aber was war dann geschehen? Er erzählte, versuchte, den Faden weiter zu verfolgen – vergeblich.
»Warum sind Sie losgerannt, haben nicht den Automaten angesetzt?«
Daniel schlug sich auf die Stirn – das hatte er doch getan...
»Die Daten müßten doch gespeichert sein.«
Der Nebenraum war leer. Maud hatte sich mit dem neuen Kollegen entfernt.
Sie liefen hinüber, setzten sich auf die Stühle, Larry drückte die Kassette seiner Rechenzeitbons in die Vertiefung seitlich an der Sichtplatte. Das »bereit«-Zeichen leuchtete grün auf. Larrys Finger glitten über die Tasten, gespannt sah er auf den Bildschirm... da wiederholte sich die Szene: der Schwarzhaarige von hinten, durch den Gang laufend... Kamerawechsel... der Bildschirm wurde schwarz.
»Gelöscht«, konstatierte Larry.
»Nichts zu machen?«
»Nichts.« Larry stand auf, nahm seine Rechenbons an sich. »Vielleicht der Mann, der vorhin hier saß...«
»Wo ist er?«
»Fort – mit Maud.«
»Vielleicht in ihrem Appartement?« Larry drückte die Audiophontaste und tastete Mauds Koordinaten ein... Rufzeichen... keine Antwort.
»Wir – werden es erfahren«, sagte Larry. »Maud amüsiert sich gern, aber sie ist loyal. Ein gutes Mädchen – wenn auch eigenwillig. Jetzt sehen wir aber nach, ob sich Ihre Bons finden oder nicht!«