Die Bons waren nicht zu finden, nicht am Arbeitsplatz und nicht in Daniels Appartement.
Larry machte ein bedenkliches Gesicht, als sie zu diesem Ergebnis kamen. Daniel war es, als zöge er sich von ihm zurück, sein Benehmen wurde frostiger, als gelte es nun, Distanz zu wahren.
»Sie haben also nicht geträumt«, sagte Larry. »Was geschehen ist, hatte reale Folgen. In Ihren vergrabenen Erinnerungen muß die Erklärung stecken.«
»Ich könnte REVEILLINE nehmen«, schlug Daniel vor.
»Wir wollen kein Risiko eingehen. Kommen Sie, ich bin mit einem Arzt befreundet, einem Psychiater. Er soll Sie behandeln. Wahrscheinlich kann er uns auch bei der Deutung helfen.«
Sie ließen sich vom Lift in den Medizinertrakt bringen, wobei sie Larrys Kennmarke benutzten, um für Daniel die Schiebetür zu öffnen.
Larrys Freund, Oakley, war der Typ des jungen Wissenschaftlers – nüchtern, gewandt, skeptisch. Er hatte kurzes rotes Bürstenhaar, schmale Lippen, blaue Augen, Sommersprossen. »Erst einige Stunden vergangen? Das kriegen wir heraus.«
Er setzte sich an die Schreibmaschine, gab Anweisungen in Klartext, noch ein Codewort, und die Panzertür vor dem Injektionsmixer, der in Brusthöhe in die Wand eingebaut war, öffnete sich. Durch die Sichtscheibe sahen sie zu, wie aus verschiedenen Glasbehältern Lösungsfäden durch millimeterdicke durchsichtige Kunststoffschläuche in eine Ampulle krochen. Ein Glockenton, ein grünes Lichtzeichen, Oakley schraubte die Patrone aus dem Gewinde und setzte sie in den Injektionsspray. Daniel entblößte die Armbeuge, und Oakley drückte den Auslöseknopf.
»Wie lange wird es dauern?«
»Nicht lang.«
Sie setzten sich auf rasch herangeholte Rollsessel, brauchten nicht zu warten.
»Es wird klarer!« sagte Daniel. Es war, als löse sich trüber Nebel auf, zerrisse in Fetzen, gäbe die Durchsicht auf eine weite Landschaft frei. »Ja, das war es. Jetzt weiß ich es wieder.«
Oakley schob ein Stativ heran, senkte eine Abnahmescheibe über Daniels Schädel. Sie saßen so, daß sie die Projektionswand im Auge hatten.
»Versuchen Sie, die chronologische Reihenfolge einzuhalten. Sprechen Sie laut, kommentieren Sie!«
Auf dem Bildschirm erschienen Flecken, verwischte Konturen... Oakley verstellte die Phase, und das Bild wurde deutlich...
Daniel rannte durch den Gang... war dem Unbekannten dicht auf den Fersen... dieser bog zur Seite... es ging im Kreis herum...
»Dann ein großer Saal, durchsichtige Schalen auf Tischen... ein Rollwagen kommt dicht auf mich zu... ein anderer... ich stürze...«
Der Tisch... die rotierende Scheibe... 0, 1, 0, 0, 0, 1... nervöse Gesichter...
»Ich merke, der Lift fährt... versuche, die Fahrt zu stoppen... es gelingt nicht... ich nähere mich der Zone Null... unaufhaltsam... die Kabinentür öffnet sich...«
Daniel schwieg.
»Nichts mehr?« fragte Oakley.
»Nichts«. Daniel duckte sich unter der Haube weg und schob das Stativ zurück.
»Die typische Situation eines Psychotests«, sagte Larry. »Die Labilisierung, die Konsolidierung von Typsituationen, das Spiel als Symbol der höheren Macht...«
Daniel nickte. »Diese Erklärung liegt nahe. Aber: Wieso sind meine Bons verschwunden?«
»Es kann ein Test gewesen sein«, meinte Oakley, »doch war es bestimmt keiner der üblichen Tests, wie wir sie durchführen.« Oakley zögerte, dann beugte er sich wieder über die Schreibmaschine, ließ sich die Liste der am Vortag vorgenommenen Tests auf den Schirm ausgeben. Daniels Nummer war nicht aufgeführt.
»Nein. Es war kein Test unserer Abteilung. Freilich – es könnte sich um eine Routinetherapie gehandelt haben.«
»Kaum zu glauben«, entgegnete Daniel ärgerlich. »Es handelte sich um furchterregende, um quälende Geschehnisse. Ich erlebte alles dumpf, wie unter einer Lähmung. Ich war im Handeln beschränkt, konnte mich nicht zur Wehr setzen. Es war äußerst unangenehm. Sollte es sich wirklich um eine Behandlung von Psychotherapeuten gehandelt haben, so möchte ich mich beschweren.«
Oakley tippte spielerisch auf die Tasten der Schreibmaschine. Ohne Daniel anzusehen, sagte er: »Woher wollen Sie wissen, welche Therapie Sie brauchen? Vielleicht haben Sie das Bedürfnis nach Furcht und Schrecken, das auf diese Weise gestillt wurde. Vielleicht brauchen Sie von Zeit zu Zeit starke negative Emotionen, um Ihr inneres Gleichgewicht zu finden. Vielleicht handelt es sich um eine Art Ventil, das psychische Spannungen abläßt.«
»Unwahrscheinlich! Ich habe nicht den Eindruck, daß ich dadurch mein inneres Gleichgewicht fand.«
»Ich spreche von einer Möglichkeit. Immerhin – Sie tun der Psychomedizin unrecht. Es ist keineswegs so, daß man unangenehme Situationen konstruiert, die dem Patienten aufgezwungen werden. Im Gegenteil. In solchen Fällen überläßt man dem Patienten die Führung. Man erhöht nur die Bereitschaft zum freien Phantasieren, leitet die Emotionen ab und verstärkt sie durch feed-back. Was Sie erlebt haben, wäre dann Ihr eigenes Produkt gewesen.«
»Und wie erklären Sie die verlorenen Bons?«
»Ich behaupte nicht, daß meine Hypothese stimmt. Sie könnten auch von anderer Seite beeinflußt worden sein.«
»Müßte Ihre Abteilung nicht davon wissen?«
»Glauben Sie, wir sind die einzigen, die Zugriff zum Gehirn der Patienten haben? Ein Gehirn kann von uns aus gesehen gesund sein; es gibt aber genügend Möglichkeiten von Störungen, die nicht in unsere Kompetenz fallen – beispielsweise soziologische. Darüber kann ich leider nichts Definitives sagen, als einzelner hat man nur in einen kleinen Teilbereich des Wirkungsgefüges Einblick.«
»Alles das würde aber den Verlust meiner Bons nicht erklären. Bei solchen Maßnahmen handelt es sich doch um Projektionen, um Täuschungen, um nichts Wirkliches.«
»Nicht unbedingt. Gewiß, man kann die Reizmuster direkt ins Gehirn einleiten, oder man kann lebensechte Projektionen bieten und durch Pharmapräparate, zum Beispiel durch psychogene Gase, die Kontrolle ausschalten, die normalerweise unterschwellig bereit steht, um im Bedarfsfall auf den Rahmencharakter des Geschehens hinzuweisen.
Es besteht aber außerdem die Möglichkeit, Suggestionen mit Realhandlungen zu verbinden, sie verfließen zu lassen, also gewissermaßen die Wirklichkeit als Test zu benützen und dem Test Einfluß auf die Wirklichkeit zuzugestehen.«
Daniel zeigte sich hartnäckig. »Habe ich nun meine Bons wirklich verspielt oder nicht?«
»Ich weiß nicht, ob es Sinn hat«, antwortete Oakley, »zwischen Sinnestäuschung und Wirklichkeit zu unterscheiden. Was man in Form von Daten eingegeben erhält, ist wirklich, ganz gleich, ob diese Daten auf der Basis eines Realgeschehens einlaufen oder nicht. Überhaupt, es kann uns ja keiner beweisen, daß es außerhalb des eigenen Denkens überhaupt etwas gibt – eine Außenwelt, andere Menschen, oder die Existenz der energetischen Welt. Was wir erkennen, ist nur ihre Verschlüsselung in Daten.«
Larry stand auf und gab Daniel einen Wink. »Oakley gerät ins Philosophieren. Da ist nichts mehr mit ihm anzufangen.«
»Es könnte sein, daß wir alle nur als gespeicherte Datenaggregate existieren, einem bestimmten Verhaltensprogramm zugeordnet sind. Dann wäre die Frage nach der Wirklichkeit rhetorisch.«
Daniel war zwar am Problem, das Oakley da anschnitt, prinzipiell interessiert, im Moment allerdings schienen ihm die verlorenen Bons wichtiger; auch wollte er Larry nicht kränken, indem er ihn allein gehen ließ, und darum stand er auf, konnte sich aber nicht enthalten, noch eine Frage zu stellen: »Würden dann die Daten, die in den Speichern sind, eine zweite innere Welt innerhalb ihrer Datenwelt bedeuten?«
»Nein!« antwortete Oakley, der Larry und Daniel bis zur Tür begleitete. »In einer Welt, die bloß aus Information besteht, gibt es nichts anderes als Information. Natürlich kann man Teilbereiche abgrenzen – auch durch pragmatische Aspekte, doch ist es nicht nötig...«